Mein Auge ruht auf dir - Thriller
dass sich der Zeitpunkt eingrenzen lässt«, sagte Mariah. »Und Lloyd Scott – so heißt der Nachbar – ist Strafverteidiger. Er wird Mutter vor Gericht vertreten. Greg, ich fürchte, sie wird wegen des Mordes an Dad angeklagt werden.«
»Mariah, lass dir doch helfen. Bitte. Ich weiß nicht, wie gut dein Nachbar als Verteidiger ist, aber deine Mutter braucht einen Top-Anwalt … und du vielleicht auch. Ich fürchte, jeder weiß, dass dein Verhältnis zu deinem Vater nicht das beste war.« Und bevor ihn der Mut wieder verließ, fügte er gleich noch hinzu: »Mariah, ich werde dich um sechs Uhr abholen. Du hast gesagt, dass man sich auf die Wochenendpflegerin deiner Mutter verlassen kann. Also wirst du mit mir zum Essen ausgehen. Bitte lehne nicht ab. Ich will dich sehen, ich mache mir nämlich große Sorgen um dich.«
Als Greg den Hörer auflegte, stand er nur da und konnte sein Glück kaum fassen.
Mariah hatte nicht nur seine Einladung sofort angenommen, sie hatte sogar gesagt, sie freue sich darauf.
16
P rofessor Albert West wusste, dass er ein gewisses Risiko eingegangen war, als er am Freitagnachmittag bei der Rückfahrt von der Beerdigung seinem Kollegen Charles Michaelson vom Josef-von-Arimathäa-Pergament erzählt hatte, das Jonathan möglicherweise entdeckt hatte. Angespannt hatte er Charles daraufhin gemustert.
Charles hatte sich verblüfft gegeben – die Reaktion konnte ehrlich oder vorgetäuscht sein, Albert wusste es nicht zu sagen. Aber als Charles unmittelbar darauf angedeutet hatte, Kathleen könnte das Pergament zerstören, falls sie es fand, gingen ihm plötzlich ganz andere Dinge durch den Kopf. Hatte Jonathan eventuell den gleichen Gedanken gehabt? Hatte er aus diesem Grund das Pergament vielleicht woanders aufbewahrt und nicht zu Hause? Hatte er es vielleicht jemandem überlassen, dem er vertrauen konnte?
Jemandem wie Charles?
Albert, der sein Leben lang unter Schlaflosigkeit litt, machte auch in dieser Nacht kaum ein Auge zu, weil ihn dieser Gedanke nicht mehr losließ.
Am Samstagmorgen ging er dann nach einem leich ten Frühstück ins Arbeitszimmer seiner bescheidenen Wohnung, setzte sich an den Schreibtisch und verbrachte den Vormittag mit Lehrplänen. Er war froh, dass in der folgenden Woche das Wintersemester begann. Er hatte diesen Sommer keinen Lehrauftrag gehabt, und auch wenn er sich nie einsam fühl te, so genoss er doch den Austausch mit seinen Studenten.
Mittags machte er sich ein Sandwich, das er im Auto essen wollte, packte die Campingausrüstung zusammen und ging hinunter zur Garage in seinem Apart mentgebäude. Und während er auf seinen SUV wartete, wurde ihm bewusst, dass er immer noch über Jonathan und das Dokument nachgrübelte. Angenommen, Charles hatte ihn angelogen. Angenommen, Charles hatte das Pergament zu Gesicht bekommen. Angenommen, er hatte Jonathan gesagt, dass er es ebenfalls für echt hielt.
Angenommen, Charles hatte Jonathan davor gewarnt, das Pergament zu Hause aufzubewahren. Vielleicht hatte er ihn daran erinnert, dass Kathleen auch die Fotos von ihm und Lily gefunden hatte, obwohl er dachte, sie gut versteckt zu haben.
Es war möglich.
Und es klang plausibel.
Jonathan hatte in Charles einen kenntnisreichen Bibelexperten und Freund gesehen. Gut möglich, dass er das Pergament bei ihm gelassen hatte. Als Albert in seinen Wagen stieg, musste er an den schockierenden Vorfall fünfzehn Jahre zuvor denken. Damals hatte Charles gegen ein Bestechungsgeld eine Schriftrolle für echt erklärt, von der er ganz genau gewusst hatte, dass es sich um eine Fälschung handelte.
Charles hatte sich damals mitten in seiner Scheidung befunden und unbedingt Geld gebraucht. Zum Glück für Charles war Desmond Rogers, der Sammler, der die besagte Schriftrolle erworben hatte, äußerst wohlhabend und hielt sich einiges auf seine eigene Expertise zugute. Als Rogers herausfand, dass er betrogen worden war, rief er Charles an und drohte, die Polizei einzuschalten. Albert hatte ihn daraufhin angefleht, keine Anzeige zu erstatten, und ihn davon überzeugen können, dass er sich selbst keinen Gefallen tat, wenn er die Sache publik machte, nachdem er andere Experten, die das fragliche Dokument als Fälschung bezeichnet hatten, offen verhöhnt hatte. »Desmond, Sie würden Charles ruinieren, aber vergessen Sie nicht, er hat Ihnen auch geholfen, im Lauf der Jahre eine wunderbare und wertvolle Antikensammlung aufzubauen«, sagte Albert zu ihm. »Bitte verstehen Sie, er hat sich
Weitere Kostenlose Bücher