Mein bestes Stuck
schlug Julia dieselbe Richtung ein, die elegante Rue Saint-Jeoire hinunter. Dabei achtete sie keine Sekunde auf die herrlich dekorierten Schaufenster der Galerien und Antiquariate, die nur darauf warteten, den gemeinen Multimillionär zu verführen. Julia war sich durchaus bewusst, dass ihr blasser schottischer Teint von der Sonne und all der Aufregung vermutlich die Farbe reifer Tomaten angenommen haben musste. Großartig!
Und da sah sie ihn. Regungslos und nach vorne gesunken hockte Luc auf einer Bank am Ende der Straße. Sein weißes Hemd klebte an seinem Rücken, und er hatte die Ärmel hochgekrempelt. Seine gebräunten Unterarme hatte er auf seinen Oberschenkeln abgestützt und seine Hände klammerten sich ineinander. Mit gebeugtem Kopf saß er in sich gekehrt da.
Sie rief nicht spontan nach ihm, sondern blieb ein paar Meter entfernt von der Bank stehen. Zum zweiten Mal an diesem Tag überlegte sie, was sie sagen könnte.
Ihre Mutter, dessen war sie sicher, würde einfach auf den Punkt kommen, würde die ganze Wahrheit sagen, erklären, warum sie das Notizbuch geöffnet hatten, sich entschuldigen und den anderen dann umarmen und schließlich zur Tagesordnung übergehen. Ihr Vater würde genauso handeln, abgesehen von der Umarmung. Onkel Quinn wiederum würde sich vermutlich nur auf die Kraft einer Umarmung verlassen.
Doch die Situation war ein bisschen komplizierter. Julia war die Tochter ihrer Eltern, und genau deshalb erkannte
sie auch in jeder Situation das wesentliche Problem. Daher wusste sie auch, dass die Hauptschwierigkeit weder Lucs Misere noch ihre verschwundenen Ringe darstellten.
Vielmehr war es die Tatsache, dass Luc nun schlecht von ihr dachte. Sie war es einfach nicht gewohnt, dass man ihr böse war, und sie fühlte sich furchtbar.
Schließlich ging sie auf die Bank zu und sagte einfach: »Es tut mir leid, Luc!«
Er rührte sich nicht, ja, er schien nicht einmal zu bemerken, dass sie da vor ihm stand. Also setzte sich Julia, nachdem sie nicht mehr wusste, was sie noch sagen sollte, einfach dicht neben ihn.
»Ich würde wirklich gern helfen!«
»Hast du das Testament auch gelesen?«
»Was?«, fragte sie empört. »Nein!«
Seine Stimme klang so kalt, es war kaum zu glauben, dass dies derselbe Luc Deschanel von gestern Abend sein sollte.
»Natürlich habe ich das Testament nicht gelesen! Wofür hältst du mich?«
Julia kaute auf ihrer Unterlippe und war nun entschlossener denn je, nichts davon verlauten zu lassen, dass es Onkel Quinn und nicht sie gewesen war, der in das Buch hineingelesen hatte.
»Luc, ich gebe zu, wir hätten das Tagebuch niemals öffnen dürfen. Es war falsch.«
»Natürlich war es falsch!«
»Aber sieh mal, nur so konnten Onkel Quinn und ich das Testament deines Vaters so schnell hierherbringen. Ich weiß, das ist keine Entschuldigung, aber zumindest eine
Erklärung, und es tut mir leid, dass ich nichts Besseres vorbringen kann.«
»Sieht nicht gut aus für dich.«
»Luc, ich …«
»Hör zu, Julia Douglas, ich habe verstanden, aber ich glaube, du übergehst hier elegant das eigentliche Problem. Es ist niemals und unter keinen Umständen in Ordnung, die privaten Aufzeichnungen einer anderen Person zu lesen. Ich weiß, wie das Tagebuch meiner Schwester aussieht, jeder kann auf den ersten Blick erkennen, dass es sich dabei um einen persönlichen Gegenstand handelt. Du hättest es nicht lesen dürfen. Du hättest einen anderen Weg finden müssen, die Besitzerin der Tasche ausfindig zu machen, einen moralisch einwandfreien Weg!«
Julia rückte ein wenig von ihm ab. Sein heftiger Wutausbruch erschreckte sie.
»Zwar tut es mir sehr leid«, fuhr er fort, »dass meine Schwester mit deinem Eigentum verschwunden ist, und ich werde ganz sicher alles in meiner Macht Stehende tun, um dir deine Tasche zurückzubringen. Doch im Moment wäre es mir sehr lieb, wenn du mich alleinlassen würdest!«
»Luc, bitte …«
»Was ist? Meine Schwester hat schon genug Probleme, ohne dass jemand in ihren Privataufzeichnungen herumschnüffelt, und ehrlich gesagt, ich auch. Ich habe genug zu tun und kann es mir nicht leisten, meine Energie darauf zu verschwenden, wütend auf dich zu sein!«
»Dann verzeih mir!«
»Wage es ja nicht, mir vorzuschreiben, was ich tun soll!«
»Um Himmels willen, das war doch nur ein Vorschlag!«
»Behalt deine Vorschläge einfach für dich, okay?«
Julia verschränkte die Arme. »Na gut, kein Problem.« Sie rückte noch weiter von ihm weg, ans
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