Mein bis in den Tod
die Uhr. »Es ist schon ein wenig spät, um noch einen Babysitter zu bekommen.« An der Kellertür blieb er stehen und warf einen zweiten, ziemlich verstohlenen Blick auf die Uhr. »Wir sollten besser zu Hause essen. Komm, machen wir uns eine Weile keine Sorgen. Wir trinken einen guten Tropfen, unterhalten uns nett. Ich geh in den Keller – wir haben noch eine Flasche von dem 83er, er müsste phantastisch sein.«
Faith sah auf ihre Uhr: 18.55. Dann auf die Küchenuhr. Dieselbe Zeit. Ross achtete darauf, dass alle Uhren im Haus absolut genau gingen. Sie hatte Oliver versprochen, ihn um sieben anzurufen. Der Tod des mutmaßlichen Täters quälte ihn. Um die Mittagszeit hatten sie kurz miteinander gesprochen. Die Polizei hatte ihm Informationen geliefert, die sie nicht an die Medien weitergegeben hatte. An der Kleidung des Toten waren Spuren von Kordit gefunden worden, was bewies, dass er vor kurzem eine Waffe abgefeuert hatte. Er hatte eine Pistole mit dem gleichen Kaliber bei sich getragen wie die Waffe, die Harvey Cabot getötet hatte. Er war im Polizeicomputer verzeichnet und hatte zwei Gefängnisstrafen abgesessen, einmal als Jugendlicher wegen eines Raubüberfalls, und einmal wegen eines Autodiebstahls, außerdem besaß er, wie man wusste, Verbindungen zur Unterwelt.
Die Polizei, hatte Oliver gesagt, sei überzeugt, dass es sich um den Täter handelte, hatte jedoch noch keinerlei Verbindung zwischen Harvey und dem anderen Toten gefunden. Es fehlte ein Motiv, aber man glaubte nach wie vor, dass ein Auftragskiller Harvey ermordet hatte.
Oliver war ärgerlich, dass der Tatverdächtige tot war. Er wollte Antworten, Erklärungen und, eines Tages, Gerechtigkeit. Er fürchtete, dass die Polizei, jetzt, da der Mann nicht mehr am Leben war, möglicherweise nicht mehr so gründlich ermitteln würde, wie sie das sollte.
In fröhlich-unbeschwertem Tonfall rief Faith in den Keller hinunter: »Ich fahre nur mal kurz weg, bin in zehn Minuten wieder da – mal sehen, was es im Supermarkt an der Fischtheke gibt. Vielleicht haben sie ein paar Jakobsmuscheln.«
Ross kam die Treppe heraufgerannt. »Nein, keine Muscheln. Ich esse einen Thunfischsalat, das genügt mir völlig. Ich muss abnehmen. Entspannen wir uns, um Himmels willen. Du hast neulich gesagt, dass wir nie mehr abends zusammensitzen und zusammen ein Glas trinken. Komm, wir gehen in die Bibliothek, trinken Champagner und entspannen uns. Ja?«
»Ich hol die guten Gläser raus«, sagte sie und versuchte das Widerstreben in ihrer Stimme zu verbergen. »Wir haben auch noch eine Dose Anchovis-Oliven im Haus, glaube ich. Möchtest du welche?«
»Warum nicht? Ich lege nur schnell die Krawatte ab.«
Im Schlafzimmer blickte Ross erneut auf die Uhr. Sieben. Er öffnete das Badezimmerschränkchen, holte die Schachtel mit
Obsession for Men
von Calvin Klein heraus und überlegte kurz. Das Wichtigste war jetzt das Timing.
Und die Menge. Auch die war entscheidend.
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79
B is zum längsten Tag des Jahres waren es noch knapp über zwei Wochen. Normalerweise liebte Faith diese ersten Wochen im Juni, wenn aus Frühling plötzlich Sommer wurde, der Garten üppig grün war, die Farben leuchteten, alles erblühte, ihre Tomaten im Gewächshaus allmählich reiften, die kleinen Frühkartoffeln geerntet werden konnten, ihre Zucchini ihre Blätter wie Flaggen hochzogen. Zu dieser Zeit des Jahres lag ein solches Versprechen in der Luft. Ein solches Selbstvertrauen. Und an solchen Tagen, angesichts einer solch intensiven Feier des Lebens, war es beinahe nicht möglich, düsteren Gedanken nachzuhängen.
Heute allerdings beunruhigte Faith der Gedanke an den Winter wie noch nie. Sie fürchtete, nie wieder einen Sommer zu erleben, wenn dieser vorüber war.
»Zum Wohl«, sagte Ross.
Durch das Erkerfenster hinter ihm beobachtete Faith ein Eichhörnchen, das die große alte Buche auf dem Rasen hinaufrannte. Manche Leute nannten sie Baumratten. Das kleine Biest hatte große Stücke der Baumrinde abgeschält, und nun bestand die Gefahr, dass der Baum langsam abstarb. Es gab eine ganze Eichhörnchen-Familie im Garten, die alle möglichen Schäden an den Bäumen anrichtete. Vielleicht sollte Ross sie erschießen – aber wer entschied, was man töten und was man leben lassen sollte? War die Buche schöner als ein Eichhörnchen? Das war subjektiv. Wer war für den Planeten wichtiger? Die Eichhörnchen wussten ebenso wenig, dass sie Schäden anrichteten, wie die Amöben, die an ihrem
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