Mein bis in den Tod
sein.«
Faith verlor das Bewusstsein, kam wieder zu sich. Plötzlich standen alle wieder im Zimmer und starrten sie schweigend an. Jules Ritterman hielt etwas in Händen, versteckte es aber hinter seinem Rücken. Sie verspürte Angst.
Ross kniete vor ihr nieder. »Ich liebe dich, Faith, ich liebe dich so sehr, ich möchte nur, dass es dir besser geht. Wir alle wollen, dass es dir besser geht. Bitte versteh das doch.«
Jetzt konnte sie sehen, was Jules Ritterman in der Hand hielt. Eine Injektionsspritze und eine kleine Ampulle.
Ein Schrei erfüllte den Raum.
Ihr Schrei.
Sie wollte vom Stuhl aufstehen, aber Hände hielten sie an den Armen fest. Ross hielt sie fest – und DeWitt.
»Nein, bitte, lasst mich«, hörte sie sich schreien.
Plötzlich stand ihre Mutter vor ihr. »Wir lieben dich, Schatz. Es ist zu deinem Besten.«
Jemand rollte ihr den Ärmel hoch. Ihr Arm wurde mit enormer Kraft festgehalten.
Sie verspürte einen scharfen Stich. Etwas drang in ihren Armmuskel, eine dichte Flüssigkeit. Sie sah Ross’ Augen. Jules Rittermans Augen. Die Augen ihrer Mutter. Michael Tennents Augen. David DeWitts Augen.
Ihre Mutter sagte: »Wir lieben dich alle so sehr, Schatz.«
In der Stille draußen hörte sie einen Vogel singen. Ein Laut des Sommers.
Er sang für sie.
Dann verstummte er.
[home]
80
»19.50 Uhr, Dienstag, 8. Juni. Band neun. Detective Sergeant Anson befragt Dr. Oliver Cabot.«
Der Kriminalkommissar prüfte, ob beide Bänder rollten, setzte sich, mit verschränkten Armen und schweißglänzendem Gesicht, in seinen Stuhl zurück und steckte sich einen Sonnenblumenkern in den Mund. Er war ein groß gewachsener Mann – selbst nach Oliver Cabots Maßstäben – und trug einen braunen Anzug, ein weißes Hemd und eine Clubkrawatte mit vielen Wappenschildern. Er hatte breite Schultern, hervorquellende Augen, die auf ein Schilddrüsenproblem hindeuteten, und eine lächerliche Frisur, eine Art Topfschnitt, wie sie Mütter ihren kleinen Söhnen verpassten, um das Geld für den Friseur zu sparen: hinten und an den Seiten geschoren und vorne zu einem dünnen Pony gekämmt.
Detective Sergeant Anson wollte nach Hause. Sie beide wollten das.
Er ermittelte in einer Weise, wie sie in den Krimiserien dargestellt wurde, die die Leute in England so gern sahen, fand Oliver.
Höflich, etwas schwerfällig, ein Schritt nach dem anderen, umfangreiche Notizen auf Papier trotz des Tonbandgeräts, das immer lief. Mein Gott, was machte sich der Mann so viele Notizen.
Und die ganze Zeit wusste Oliver, dass der Mann versuchte, ihn hereinzulegen.
Aber Oliver war das fast schon egal, so gefühllos hatte ihn der Verlust seines Bruders und dieser ganze Tag gemacht, den er in diesem fensterlosen Befragungszimmer in der Polizeistation von Notting Hill verbracht hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben dämmerte es ihm, wie Geständnisse erzwungen wurden.
Aus Menschen herausgepresst wurden. Man konnte leicht an einen Punkt gelangen, an dem man alles sagte, nur um aus einem Raum wie diesem herauszukommen.
Es war ein lauer Sommerabend, aber es hätte auch Winter sein können, es hätte jede verdammte Jahreszeit sein können, es spielte keine Rolle. Harvey war tot. Schon vor dem Aufstehen heute Morgen war Oliver erschöpft gewesen, denn er war den größten Teil der Nacht auf gewesen und hatte mit Harveys Witwe, Leah, in Charlottsville, North Carolina, auf der anderen Seite des Atlantiks, telefoniert.
Es hatte anderthalb Tage gedauert, bis sie die Hiobsbotschaft richtig begriffen hatte. Inzwischen stellte sie ihm bohrende Fragen, wollte über alles sprechen, was geschehen war: vom Zeitpunkt, als Harvey in London aus dem Flugzeug gestiegen war, über jede Einzelheit in seinem Leben, bis hin zu ihrer gemeinsamen Kindheit. Sie wollte über Religion, Philosophie reden, alles, nur um nicht an die Stille in ihrem Haus oder ihre schlafenden Kinder denken zu müssen.
Man kann in Würde sterben, dachte Oliver. Schwieriger war es, in Würde zu trauern, denn der Kummer raubte einem alles: Er riss einem den Boden unter den Füßen weg, den Stuhl, auf dem man saß, die Wände, die einen umgaben.
Leah war eine gute Frau, attraktiv, intelligent, fürsorglich. Sie verdiente es nicht, mit dreiundvierzig Witwe zu sein. John-John, Tom und Linda, vierzehn, zwölf und zehn, verdienten es nicht, ihren Vater zu verlieren. Und diese Welt verdiente es nicht, Harvey Cabot zu verlieren. Er hatte zu viel zu geben, zu viel zu lehren.
Und ich
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