Mein bis in den Tod
seiner Arbeit an den Nähten aufzublicken. »Ich finde, heute Morgen ist Nr. 2, F-Dur genau richtig.« Er strahlte, ein echtes Strahlemann-Lächeln.
Unter der hellen Operationslampe lag eine junge Frau auf dem Tisch, mit offenen, glasigen Augen, reglos wie eine Tierleiche. Nur die digitalen Anzeigen auf dem Anästhesie-Monitor und das ständige Piep, Piep, Piep verriet den sechs Personen im Operationssaal, dass sie noch lebte.
Imran Patel, der Assistenz-Chirurg, beobachtete Ross’ Technik. Der Operateur kam jetzt zum Ende der Naht. Die OP -Schwester reichte ihm wortlos einen neuen Faden. So gefiel Ross die Arbeit. Der altbewährte Stil, bei dem die OP -Schwester ihn bediente, und alle andern im Team auch: die andere Schwester, der Anästhesist und der Assistenz-Chirurg. In einem OP musste alles wie am Schnürchen laufen. Es musste Hierarchie geben. Disziplin. Ein strenges Regiment herrschen.
Und hübsche Schwestern mussten da sein.
Das Flirten mit ihnen sah er als eine Art Zugabe. An etwas Weitergehendem war er jedoch nicht interessiert.
Die Klänge des Brandenburgischen Konzerts Nr. 2 erfüllten den Raum. Ross schob die Nadel erst durch den dünnen Fleischlappen, den er erst einige Minuten zuvor vom Oberschenkel der jungen Frau entfernt hatte, dann durch das dicke Narbengewebe, das nach den furchtbaren Verbrennungen ihren Oberkörper bedeckte. Sally Porter, siebenundzwanzig, war ein hübsches Mädchen gewesen, bevor die Flammen sie entstellt hatten. Ross wusste nicht viel über den Brand, nur, dass er sich auf einem Boot ereignet hatte. Wenn er eine kosmetisch-plastische Operation durchführte, vermied er es, die Ursache der Tragödie herauszufinden, weil das vielleicht sein Urteil beeinflusst hätte: Wenn er dahinter kam, dass der Patient etwas wirklich Dummes angestellt hatte, zum Beispiel Benzin auf einen Grill gegossen oder sich bewusst selbst in Brand gesteckt, ärgerte ihn das möglicherweise und führte dazu, dass er weniger gute Arbeit leistete.
Sally Porter würde immer ein unschuldiges Opfer sein. Eine duldsame junge Frau, die er in den letzten zwei Jahren zehnmal operiert hatte und wahrscheinlich mindestens noch zehnmal operieren musste, um ihr, Schritt für Schritt, ihr Leben zurückzugeben. Er bewunderte ihren Mut, den Stoizismus, mit dem sie alle Rückschläge einsteckte.
Und sie hatte schon viele Rückschläge erlitten. Bei einer der vorausgegangenen Operationen hatte sich die transplantierte Haut infiziert und war abgestorben, weswegen sie den ganzen Eingriff noch einmal über sich ergehen lassen musste. Die heutige Operation war die Wiederholung einer, die er vor einem halben Jahr vorgenommen hatte. Es hatte da ein Problem mit der Mikrozirkulation gegeben: Die Haut hatte sich zu stark zusammengezogen und den Kopf dauerhaft nach unten gezogen. Der ewige Kampf, den jeder plastische Chirurg zwischen den Ansprüchen der Ästhetik und der Blutzufuhr ausfocht.
Er beendete die letzte Naht, trat zurück und nickte der Fotografin zu, die in den Operationssaal zurückgekehrt war. Sie trat vor und machte drei Fotos von seiner Arbeit. Dann begann der Assistenz-Chirurg die Gazestreifen aufzulegen, und die OP -Schwester reichte Ross die Heftzange mit den Titanklammern.
Zwanzig Minuten später wurde Sally Porter hochgehoben und eine Trage unter sie geschoben. Anschließend schob man sie auf einem fahrbaren Krankenbett in den Aufwachraum. Nachdem die andere OP -Schwester den CD -Player ausgeschaltet hatte, entspannte sich die Atmosphäre im Operationssaal. Schließlich half sie Ross beim Ausziehen der Handschuhe und warf sie in einen Mülleimer.
Ross schob die Maske nach unten, löste die Klettverschlüsse an seinem OP -Kittel und machte sich Notizen, während der Assistenzarzt ihm über die Schulter sah. Eine junge Schwester, die ein schnurloses Telefon in der Hand hielt, unterbrach ihn. »Mr. Ransome, ein Anruf für Sie.«
»Wer ist dran?«, fragte er gereizt. Sie hatten heute ein volles Programm, und Sally Porters Operation hatte länger gedauert als gedacht. Es war halb drei, er hatte Hunger, und ihm würde keine Zeit fürs Mittagessen bleiben.
»Hm …« Die Krankenschwester bedeckte den Hörer mit der Hand. Sie hieß Francine West, war hübsch und wirkte nervös.
»Ich beiße nicht. Stellen Sie einfach fest, wer es ist.«
Sie verließ den Raum. Einige Augenblicke später kam sie zurück. »Ein Dr. Ritterman. Er hat schon dreimal angerufen.«
Er schlüpfte aus dem OP -Kittel und
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