Mein bis in den Tod
immer noch Blut heraus, sie betupfte die Wunde erneut. Warum zum Teufel hatte er gewusst, dass sie mit Oliver Cabot zusammen gewesen war?
Dann fiel es ihr ein. Ross im Auto nach dem Dinner bei der Royal Society of Medicine. Die ruhige, doch unheimlich kühle Art, wie er gesagt hatte:
Ich habe dich gesehen
.
Hatte er zwei und zwei zusammengezählt? Die Telefongesellschaft hatte ihm mitgeteilt, dass sie aus Winchmore Hill sprach. Hatte er herausgefunden oder gewusst, dass Oliver Cabot in Winchmore Hill arbeitete? Ließ er sie beschatten? Sie hatte gelernt, bei Ross gar nichts auszuschließen. Doch seine Frage, ob sie mit Oliver Cabot zusammen gewesen sei, musste auf einer Vermutung beruhen. Sie musste das einfach nur abstreiten und sich einen anderen guten Grund ausdenken, warum sie dort gewesen war.
Oder Ross sagen, er solle sich zum Teufel scheren.
Und genau das beschloss sie jetzt, denn ihr Zorn machte sie mutig.
Scher dich zum Teufel, du Mistkerl
.
Sie lief durchs Zimmer und öffnete die Tür.
Du glaubst, du kannst so eine Nummer abziehen, meine Kreditkarten sperren und mich wie eine Idiotin aussehen lassen? Vielleicht gibt es ja in einem parallelen Universum eine Faith Ransome, die das akzeptiert, unterwürfig, ohne ein Wort zu sagen, aber nicht in diesem.
Du lebst auf dem falschen Planeten, Ross
.
Plötzlich schrie Alec, als hätte er einen schrecklichen Unfall gehabt.
Faith spurtete den Flur entlang, ihr Magen krampfte sich zusammen. Jetzt schrie Alec, vor Schmerz und Furcht. Sie sah, wie er zusammengekauert auf den Fliesen lag, den Kopf in den Händen.
Als sie unten an der Treppe ankam, blickte er zu ihr auf und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf. Sie kniete sich neben ihn und nahm ihn in den Arm. »Mein Schatz, was ist passiert?«
Er heulte herzzerreißend weiter.
»Schatz? Bitte sag es mir – bist du von der Treppe gefallen?«
»D-D-Daddy hat mich geschlagen.«
Und da sah sie es, die Stelle unterhalb des linken Auges, die verletzte Haut, den Bluterguss.
Ihr schlimmster Albtraum. Ross misshandelte Alec. Ross hatte ihr oft erzählt, wie sein Vater ihn geprügelt hatte. Und aus dem, was sie gelesen hatte, wusste sie, dass Menschen, die von ihren Eltern misshandelt worden waren, später oft die eigenen Kinder schlugen.
Sie unterdrückte ihren Zorn und untersuchte Alecs Kopf, um sich zu vergewissern, dass nichts Ernsthaftes passiert war, dann hob sie Alec in die Arme und trug ihn in die Küche. Sie setzte ihn auf einen Stuhl, lief zum Gefrierschrank hinüber, öffnete ein Schubfach und zog einen Beutel Tiefkühlerbsen heraus. Diese wickelte sie in ein Küchenhandtuch und drückte sie Alec aufs Gesicht. Er wandte sich ab, wies das Bündel zurück, aber sie gab nicht nach, und langsam beruhigte er sich.
»Warum hat Daddy dich geschlagen, Liebling?«
»Ich – ich – ich –« Er brach in unkontrollierbares Schluchzen aus.
Im Fernseher in der Küche stand Bart Simpson vor einem Polizisten und wurde heftig ausgescholten.
»Schlafenszeit, Mami bringt dich nach oben.«
Nahe der Hysterie jetzt. »Nein-nein-nein-
neeeiiin
.«
Sie trug ihn in den ersten Stock. Er schrie und protestierte. Sie redete zärtlich auf ihn ein, versuchte ihn zu besänftigen, ließ ihm Badewasser ein, zog ihn aus und setzte ihn in die Wanne. Schließlich hörte er auf zu weinen.
»Sag mir, was Daddy getan hat, Liebling.«
Er blieb schweigend in der Wanne sitzen, während sie ihn einseifte, dann abbrauste und abtrocknete.
»Sag’s mir, Liebling.«
Doch es war, als wäre ein Schalter in ihm umgelegt worden. Sie steckte Alec ins Bett. Er lag da, mürrisch und schweigend. Faith fand das unheimlich. Sie sah Ross in ihm, ganz deutlich, die gleiche Verdrießlichkeit, das gleiche Schweigen, wenn er wütend oder gekränkt war.
Sie versuchte, ihm aus seinem Lieblingsbuch,
Charlie und die Schokoladenfabrik
, vorzulesen, aber er wandte sich ab, den Daumen im Mund. Verärgert legte sie das Buch zur Seite, gab ihm einen Gutenachtkuss und schaltete das Licht aus.
Sofort fing er an zu schreien.
Sie schaltete das Licht wieder an. »Was hast du, Liebling? Soll ich das Licht anlassen?«
Er starrte sie schweigend an, mit weit aufgerissenen, ängstlichen Augen, die linke Gesichtshälfte geschwollen und aufgedunsen.
»Licht an?«, wiederholte sie. »Sprich mit mir. Sag etwas, bitte.«
Plötzlich flüsterte er ihr etwas zu.
»Ich kann dich nicht verstehen.« Sie trat näher.
»Bitte lass nicht zu, dass Daddy ins
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