Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
Europäische Gemeinschaft, das sind 260 Millionen Menschen, genauso viel wie in der Sowjetunion, sogar noch ein bisschen mehr als in den Vereinigten Staaten von Amerika, ein sehr großer industrieller und landwirtschaftlicher Markt. Viele unserer wirtschaftlichen Zukunftsfragen – hier war von der Vollbeschäftigung die Rede; es könnte auch die Rede sein von der Landwirtschaft, von der Energieversorgung, vom Umweltschutz, vom Ausbildungswesen –, viele dieser Fragen können wir nur gemeinsam und gemeinschaftlich bewältigen,
Dänemark wie auch Deutschland, wir haben beide schon bisher eine ganze Menge Vorteile gezogen aus der Tatsache dieser europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Aber nun wird es Zeit, dass diese Wirtschaftsgemeinschaft auch einen gemeinsamen politischen Charakter entwickelt. Die Ministerräte in Brüssel, die Kommission in Brüssel, die brauchen eine demokratische Legitimation und Kontrolle. Es ist ein weiter Weg in allen Gegenden der Welt bis hin zu echten, voll ausgebauten parlamentarischen Befugnissen, aber man muss den Weg anfangen und schrittweise weitergehen.
Wir Sozialdemokraten haben Erfahrung in schrittweiser Entwicklung. Hundert Jahre trennen uns von Bismarcks Gesetz gegen die Sozialdemokraten, von Bismarcks Sozialistengesetz, und seitdem haben wir schrittweise an Vertrauen gewonnen in unserem Volk, schrittweise haben wir Wähler dazugewonnen bis hin zu dem Stadium, das wir seit zehn Jahren erreicht haben in der Bundesrepublik: Dass es zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist, dass Sozialdemokraten das Land besser regieren können als solche Leute wie Kohl und Strauß.
Die Hamburger haben das schon ein bisschen früher gewusst, dass Männer wie Brauer und Nevermann und Weichmann die Stadt Hamburg ein bisschen besser regieren können als die von der anderen Feldpostnummer.
Und nun kommt es darauf an, dass wir alle dazu beitragen, dieses Wissen auch wieder zu berücksichtigen, wenn das Europäische Parlament zum ersten Mal gewählt wird. Gleichzeitig in Dänemark und in Deutschland und in Holland und in Belgien, in Luxemburg, in Irland, in England, in Frankreich und in Italien.
Ich bin sehr stolz darauf, dass ich daran habe mitwirken dürfen, endlich diesen Beschluss zu gemeinsamen Wahlen zustande zu bringen, aber nun kommt das Schwierigere, nun muss sich zeigen, ob wir auch in all diesen neun Staaten Europas als Wähler diese Verantwortung richtig erkennen. Europa muss ja als Ganzes einen ähnlichen Weg nehmen, wie ihn Dänemark genommen hat oder wie wir ihn genommen haben: einen Weg der sozialen Gerechtigkeit. Wir wollen weder, dass die Kapitalisten Europa regieren, noch wollen wir eine Diktatur durch eine einzige kommunistische Partei. Wir wollen weder das eine Extrem noch das andere Extrem. Wir wollen weder eine Diktatur des Geldes, eine Diktatur der Reichen und der Rabiaten, noch wollen wir eine Diktatur einer kommunistischen Partei, Parteibürokratie. Sondern was wir brauchen, ist ein Europa, in dem die Menschen frei sind, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, ein Europa, in dem soziale Gerechtigkeit herrscht, und da ist in manchen Teilen Europas noch vieles nachzuholen, und wir wollen ein Europa der Solidarität, wo einer dem anderen hilft, ein Land dem anderen hilft.
Das heißt nicht, dass die Dänen oder dass wir Deutschen oder dass die anderen Völker das, was sie bei sich zu Hause geschaffen haben, dass sie das aufgeben werden; um Gottes willen, das werden wir nicht, aber wir werden einer vom anderen lernen.
Ich habe zum Beispiel im Laufe meines Lebens vieles gelernt von der skandinavischen Gewerkschaftsbewegung. Anker Jörgensen, ehe er Ministerpräsident in Dänemark wurde, war der Vorsitzende der dänischen Gewerkschaftsbewegung. Und wenn ich das hier einmal ganz deutlich sagen darf: Wenn überall in Europa, auch im Süden, auch im Westen, ein so gutes inneres gegenseitiges Verständnis herrscht zwischen Regierungen und den Organisationen der Arbeitnehmer, den Gewerkschaften, wie in Dänemark, in Kopenhagen, und wie in Bonn, dann wäre mancher Arbeitnehmer in Europa besser dran, als er es heute ist.
Ich habe Anker Jörgensen auch zu danken für seine Mitwirkung bei der Schaffung des europäischen Währungssystems, das vor ein paar Wochen in Kraft getreten ist. Er war der Gastgeber in einem kleinen Haus in einem Vorort von Kopenhagen, wo die Ministerpräsidenten Europas sich auf dieses Ziel verständigt haben. Mancher in der CDU hier in Deutschland hat
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