Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
Sorgen. Er fürchtete, der Widerstand gegen eine solche Entwicklung könnte die Vereinbarungen über die Montanunion vereiteln. Aber Monnet wäre sich selber untreu geworden, wenn er den neuen Schwierigkeiten nicht mit einer eigenen Initiative begegnet wäre, zu der ihn wie üblich niemand ermächtigt hatte. Er setzte sich mit seiner »Equipe« zusammen, um insgeheim einen Plan für eine europäische Verteidigungsgemeinschaft auszuarbeiten. Im Oktober 1950 suchte er Ministerpräsident Pleven und Außenminister Schuman auf, um die beiden Politiker auf die Gefahren der amerikanischen Forderung nach einer nationalen deutschen Armee aufmerksam zu machen. Er vertrat den Standpunkt, dass ein französischer Vorschlag für eine europäische Armee der beste Ausweg aus der schwierigen Lage sei. Als der Regierungschef einwandte, dass die deutsche Frage schon bald im Parlament zur Sprache kommen würde, und hinzufügte: »Wir haben also kaum eine Woche Zeit, um das Projekt einer gemeinsamen Verteidigung auszuarbeiten«, reagierte Monnet wie ein Zauberer, der ein Kaninchen aus seinem Zylinder holt: »Hier ist es«, sagte er. »Ich habe ein Projekt für eine Regierungserklärung vorbereitet.«
Der Plevenplan für eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft blieb ohne Erfolg. Aber die Montanunion wurde zum Fundament aller nachfolgenden europäischen Einigungsbestrebungen. Monnet wurde der erste Präsident ihrer Hohen Behörde. Vier Jahre später gab er dieses Amt mit einer bezeichnenden Begründung auf: er wollte seine völlige Handlungsfreiheit wiedergewinnen, um sich der Vorbereitung einer Erweiterung des europäischen Zusammenschlusses durch den Gemeinsamen Markt und die EURATOM zu widmen. In einer amtlichen Stellung oder in offiziellem Auftrag Pläne zu schmieden, konnte sich der Planer Monnet wohl nicht mehr vorstellen. Die Kommission der Gemeinschaft für Kohle und Stahl war etabliert und arbeitete zufriedenstellend; Monnet konnte daher seinem alten Hang zur Unabhängigkeit von den Apparaten nachgeben. So löste er sich von der Präsidentschaft der Kommission.
Sein Gedanke war – und er war ebenso revolutionär wie seine früheren Vorschläge –, die Parteien und die Gewerkschaften durch ihre wichtigsten und einflussreichsten Führer für Europa zu mobilisieren. So entstand das »Aktionskomitee für die Vereinigten Staaten Europas«. 1954 hatte Monnet Verbindung zu den deutschen Gewerkschaften aufgenommen, deren Realismus und Einfluss ihn beeindruckte. Dass Erich Ollenhauer, Herbert Wehner und Fritz Erler als Führer der damaligen Opposition im Bundestag ihm 1955 ihre Zusage zur Mitarbeit gaben, war für Monnet ein wichtiger Einschnitt in der Entwicklung der europäischen Bewegung. Das Komitee hat in seiner zwanzigjährigen Geschichte, dank des unermüdlichen persönlichen Einsatzes Jean Monnets und seines Stellvertreters, Professor Max Kohnstamm, eine unschätzbare Rolle bei der Formulierung und öffentlichen Propagierung neuer europapolitischer Ideen gespielt – zugleich als wirksamer Anwalt für Europa. Zuvörderst ging es darum, die Anstöße der Konferenz von Messina in konkrete Form zu gießen und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft aus der Taufe zu heben.
Mit seltener Klarsicht hat Monnet schon 1956 bei der Verstaatlichung des Suezkanals erkannt, welche Probleme sich für die Energieversorgung Europas in nicht allzu ferner Zukunft ergeben würden. Die klare Folgerung, die er daraus zog, war die Notwendigkeit einer europäischen Lösung für die friedliche Nutzung der Kernenergie. Hieraus entstand EURATOM . Andere, erst sehr viel später politisch wirksam werdende Gedanken wurden in den Jahren 1956 – 1962 im Kreise des Komitees durchdacht: der Gedanke an eine europäische politische Union, an eine europäische Währungsunion, an die Bildung eines Rats der Staats- und Regierungschefs. Vor allem aber setzte sich das Monnet-Komitee für den Beitritt Großbritanniens zur EG ein und arbeitete an Vorschlägen für tragfähige Beziehungen der EG zu den USA .
Manches ging freilich sehr viel langsamer und auch anders, als Monnet es sich vorgestellt hatte. »Die Zeit der Geduld« überschrieb Monnet dieses Kapitel, das von seiner Arbeit in den Jahren 1964 – 1972 handelt. In allem aber trug ihn die Überzeugung, dass die Europäische Gemeinschaft so feste Wurzeln im Boden Europas geschlagen hatte, dass sie nun in der Lage war, auch Schlechtwetterperioden zu überstehen.
Jean Monnet hat der europäischen Sache
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