Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
dringend den echten Fortschritt, zum Beispiel den Fortschritt zu einer großen gemeinsamen Anstrengung zur Schaffung von Arbeitsplätzen: Denn gegenwärtig, Herr Bundeskanzler, steigt die Arbeitslosigkeit, saisonbereinigt, in ganz Europa immer noch trotz Hochkonjunktur in den Vereinigten Staaten von Amerika. Gerade eben hat die Europäische Kommission in Brüssel für die ganze Europäische Gemeinschaft für 1984 , und für 1985 gleich mit, den weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit angekündigt.
Europa braucht zum Beispiel den Fortschritt in Richtung auf kontinuierliche Modernisierung der Produktionsstrukturen auf diesem Kontinent; der Strukturen alter, weltweit nicht mehr wettbewerbsfähiger Industrien hin zu modernen, umweltfreundlichen industriellen Produktionsstrukturen, vor allem zu modernen, weltweit wettbewerbsfähigen Dienstleistungsproduktionen. Auf diesem Felde sind uns die Vereinigten Staaten von Amerika weit voraus. In Amerika entfallen von insgesamt hundert Arbeitsplätzen vier auf die Landwirtschaft – bei uns in Deutschland fünfeinhalb –, 28 auf die Industrie – bei uns in Deutschland 43 –, aber fast siebzig Arbeitsplätze von hundert entfallen in Amerika auf Dienstleistungen aller Art. Bei uns sind es nur etwa fünfzig.
Natürlich können diese fehlenden Arbeitsplätze nicht ohne Wachstum wiederhergestellt oder neu geschaffen werden; aber das Wachstum muss vor allem im Dienstleistungsangebot an die Welt liegen. Dazu gehören dann hohe Investitionen, ungehemmt durch die heutigen, noch nie da gewesenen Realzinssätze in der Welt, auch bei uns. Herr Bundeskanzler, Sie haben sich gerühmt, unsere Zinsen lägen niedriger als in USA . Das ist wahr; das war allerdings schon seit vielen Jahren so, und das muss auch so bleiben.
Und dazu gehört ein freier Weltmarkt. Aber gerade, was diese beiden Kardinalprobleme unserer europäischen Arbeitslosigkeit angeht – höhere Investitionen, niedrigere Zinssätze, freier Weltmarkt –, dazu hat die Europäische Gemeinschaft gegenwärtig weder das Konzept noch die Kraft. Sie hat auch auf dem Londoner Gipfel der sieben großen industriellen Demokratien die Interessen Europas nicht wirklich voranbringen können.
Nun sind Gipfeltreffen immer nützlich, auch wenn nichts beschlossen würde, weil man dort zuhören muss und nicht bloß für das Fernsehen reden kann. Noch nützlicher wären sie natürlich dann, wenn sie uns tatsächlich voranbrächten. Wenn uns nun der Herr Bundeskanzler auch manche liebenswerten Randdetails mitgeteilt hat, eines war in London wie schon vorher 1983 in Williamsburg, wie schon 1982 in Versailles, sehr klar zu erkennen: Europa verliert mangels eigener Einigkeit immer mehr sowohl an wirtschaftspolitischem als auch an strategisch-politischem Gewicht in der Welt. Dies konnten Sie gestern und vorgestern und können Sie heute nach Fontainebleau in der internationalen Presse nachlesen; das reicht vom »Wallstreet Journal« bis zur »Prawda«: das gleiche Urteil. Übrigens: Auch die Bundesrepublik Deutschland verliert zunehmend an internationalem Gewicht.
Unter diesem doppelten Gesichtspunkt der Wirtschaftspolitik und des strategisch-politischen Gewichts möchte ich heute Morgen die Lage Europas behandeln und für meine Person auch einige neue Vorschläge dazu einbringen. Ich will dem aber einen sehr positiv gemeinten Satz voranstellen, weil ich einen deutlichen Lichtblick erkennen kann. Ich begrüße nachdrücklich das gute persönliche Einvernehmen zwischen dem deutschen Bundeskanzler und dem französischen Staatspräsidenten. Hier wird an die Tradition der beiden vorangegangenen Staatslenker angeknüpft, und hier könnte auch ein Schlüssel gefunden werden.
Zunächst aber ein Wort zur wirtschaftlichen Lage Europas und der Welt. … Weil die Vereinigten Staaten viel höhere Zinsen zahlen als wir, legen viele Leute ihr Geld in Dollars an. Dadurch wird die Nachfrage nach Dollars und der Wechselkurs des Dollar weit über dessen tatsächliche Kaufkraft gesteigert. Japanische und europäische Waren sind deshalb in den USA künstlich verbilligt – deswegen verkaufen wir gegenwärtig so viel dahin –, aber amerikanische Waren sind in der ganzen Welt künstlich verteuert. Dies ist einer der Gründe für immer neue Maßnahmen zum Schutze der amerikanischen Industrie und ihrer Arbeitsplätze.
Ich schätze, dass heute eine Hälfte des ganzen Welthandels unter dem verzerrenden, starken Einfluss entweder von Protektionismus oder von
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