Mein Freund, der Mörder Kommissar Morry
voreiligen Worte. Gehetzt und unstet blickte sie zu den Chinesen hinüber.
Morry stellte Frage um Frage. Er blieb geduldig und höflich. Aber der Erfolg war gleich Null. Er mußte das Verhör abbrechen. Enttäuscht verließ er nach einer Stunde das berüchtigte Lokal. Cilly Saddler nahm ihre Arbeit wieder auf. Sie hatte gerade die erste Bestellung entgegengenommen, da stand Sam Lupin vor ihr. Seine stechenden Blicke glitten argwöhnisch über sie hin.
„Du willst es wohl deinem Freund nachmachen?“ höhnte er. „Erst hat er den Verräter gespielt, und jetzt willst du uns verzinken, he? Was hast du denn dem Kommissar erzählt? Na, rede schon!“
„Ich habe nichts verraten“, gestand Cilly Saddler verstört. „Kein Wort von euren Geschäften. Keine Silbe von deinen Freunden.“
Sam Lupin glaubte ihr nicht. Sein hageres Gesicht verzerrte sich zu einer haßerfüllten Fratze. „Wir hätten nie etwas mit dir anfangen sollen“, zischelte er wütend. „Du hast nur diesen verdammten Zinker im Kopf. Geh doch hinaus zu ihm! Er sitzt draußen im Billardzimmer. Sicher hat er bereits Sehnsucht nach dir. Geh hinaus und halt ihm die Händchen.“
Cilly Saddler ließ die Haßausbrüche regungslos über sich ergehen. Erst als sich Sam Lupin entfernt hatte, fand sie ihre Besinnung wieder. Sie füllte ein Glas mit hellem Whisky und trug das Tablett in das Billardzimmer hinaus. Als sie den Raum betrat, sah sie Ray Mortimer ganz allein an dem langen Tisch sitzen. Sie stellte hastig den Schnaps vor ihm nieder und blickte ihm besorgt in die Augen.
„Was tust du hier?“ fragte sie aufgeregt.
„Man hat mich hierher bestellt“, gab Ray Mortimer leise zur Antwort. „Bisher weiß ich nicht, was Sam Lupin von mir will. Jedenfalls nichts Gutes. Dieser Teufel fühlt sich nur wohl, wenn er irgendeine Gemeinheit aushecken kann.“
„Ich gebe noch heute meine Stelle hier auf“, sagte Cilly Saddler eindringlich. „Ich werde in einer anderen Stadt arbeiten. Vielleicht auch im Ausland. Bars wie diese gibt es überall. Kommst du nicht mit? Du solltest auf keinen Fall noch länger im Schleusenhaus bleiben. Es ist an der Zeit, daß du verschwindest. Hör auf meinen Rat! Ich habe es immer gut gemeint.“
„Ich kann jetzt nicht einfach weglaufen“, warf Ray Mortimer ein. „Man soll mir nicht nachsagen, daß ich ein Feigling sei. Erst wenn dieser Verein in die Brüche gegangen ist, werde ich wieder ruhig leben können.“
„Im Ausland wären wir auch so sicher“, drängte Cilly. „Du müßtest bei mir nichts entbehren. Ich würde dir alles geben, was ich habe.“
Ihre Worte waren ehrlich gemeint. Auch ihr Flehen war wirklich aufrichtig. Aber selbst ihre Tränen konnten Ray Mortimer nicht umstimmen.
„Ich bleibe“, erklärte er entschieden. „Ich laufe nicht weg!“
So mutlos wie nach diesem Gespräch war Cilly Saddler noch niemals gewesen. Ihre letzte Hoffnung war zerronnen, ihre ganze Zuversicht auf den Nullpunkt gesunken.
Sie ließ ihre Arbeit einfach liegen. Sie warf ihre Geldtasche auf den Tisch, band die Servierschürze ab und lief davon, ohne sich von irgendjemand zu verabschieden. Nur weg von hier, dachte sie. Nur niemals wieder Sam Lupin begegnen. Nur keine Stunde länger in dieser üblen Bude bleiben.
Sie wußte kaum, wohin sie lief. Sie hätte später auch nicht mehr sagen können, ob sie mit dem Bus oder mit der U-Bahn gefahren war. Sie kam erst wieder zu sich, als sie das Hafenviertel bei Cubitt-Town erreichte. Ihre Schritte wurden zögernd und unschlüssig. Ihr Weg hatte ein Ende gefunden. Die Themse schob ihr einen Riegel vor. Sie konnte nicht darüber hinweg. Hilflos irrten ihre Blicke über die Kaimauer. Da entdeckte sie plötzlich einen Frachter, aus dessen Schornstein dicke Rauchwolken quollen. Diese Rauchwolken lenkten ihre Gedanken in eine ganz bestimmte Richtung.
Der alte Kasten rüstet sich zum Auslaufen, dachte sie. Er lichtet vielleicht schon in einer Stunde die Anker. Wenn ich mit ihm fahren könnte, lägen alle Schrecken hinter mir. Ich habe Geld und die nötigen Papiere. Ich bekäme im Ausland sofort wieder eine Stelle. Wozu also noch lange überlegen? Sie lief über das Fallreep an Bord des schwarzen Dampfers und hatte das Glück, gleich hinter der Kommandobrücke auf den Kapitän zu stoßen. Es war ein gemütlicher Holländer. Er musterte die junge Dame grinsend und wohlgefällig.
„Haben Sie noch eine Passagierkabine frei?“ stotterte Cilly Saddler atemlos. „Ich würde mich auch mit
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