Mein geheimes Leben bei Scientology und meine dramatische Flucht (German Edition)
Kindern mehr als geeignet, fast wie ein ganzjähriges Sommercamp. Aber nach all den Strapazen konnte ich all dem kaum etwas abgewinnen.
Es machte mir keinen Spaß mehr, auf der Ranch oder ein Kadett zu sein. Die tägliche Decksroutine war unerträglich, die Kursarbeit kaum zu bewältigen. Zwar forderte auch die körperliche Arbeit ihren Tribut, aber die eigentliche Überforderung kam daher, dass von uns erwartet wurde, wie Erwachsene zu denken. Bei all den Prozeduren, Informationen und Diensten, mit denen täglich unser Kopf gefüllt wurde, gab es kaum oder gar keinen Raum mehr für Fantasie und Spiel. Es ist schwer zu begreifen, wie wir Kinder die geistigen Fähigkeiten aufbrachten, die verschiedenen täglichen und wöchentlichen Statistiken auf dem neuesten Stand zu halten, Trends in diesen Daten zu ermitteln und dann eine Strategie zu entwickeln, mit Hilfe komplexer Formulare und täglicher Schlachtpläne die Statistiken zu verbessern. Jeder Vorgang auf der Ranch war strikt geregelt und bürokratisch, ob wir nun die Austeilung von Werkzeug mit unserer Unterschrift bestätigten oder jedem Tisch eine Hierarchie aus Mess President, Treasurer und Steward zuwiesen. Auch das Aufräumen und Saubermachen hatte eine strenge Ordnung, die LRH in einem entsprechenden Kurs festgelegt hatte. Es gab Regeln, wie Fenster und Messinggegenstände gereinigt werden sollten, und eine klare Reihenfolge für das Putzen eines Zimmers. Jeden Tag wurde geprüft, ob die Laken auf unseren Betten auch korrekt eingeschlagen waren, was wir vorher in einem Kurs gelernt hatten. Selbst zum Fahrradfahren mussten wir vorher einen Kurs absolvieren.
Zusätzlich zu diesen mühseligen Routinearbeiten waren wir für mindestens drei Bereiche verantwortlich, die täglich auf Vordermann gebracht werden mussten. Für Notfälle wie Feuer, Einbrecher oder Erdbeben hatten wir festgelegte Verhaltensvorgaben, die von Schadenskontrolle bis Evakuierung reichten, und diese Vorgaben wurden ebenfalls jede Woche gründlich durchgesprochen und geübt.
Schon einen freien Tag zu bekommen, erforderte einen unglaublichen Aufwand. Wenn ich frei haben wollte – zum Beispiel, weil meine Mom zur Int kam –, dann musste ich mit einem Formular einen Antrag stellen, auf dem für jede meiner verschiedenen Aufgaben Stellvertreter aufgelistet waren. Wir bekamen höchstens alle zwei Wochen frei und nur dann, wenn unsere Statistiken gut waren und wir keinen niedrigen Ethik-Zustand hatten. Erst dann wurde der Antrag überhaupt geprüft, und zwar von mindestens vier Personen.
Die Liste der Pflichten und Prozeduren war endlos, und das Resultat dieser unzähligen Maßnahmen, Formulare und Regeln war, dass es auf der Ranch keine Kinder mehr gab, sondern nur noch kleine Erwachsene. Zu besonderen Gelegenheiten wurden wir in hübsche Kleider gesteckt und mussten vor unseren Eltern oder Mitgliedern der Int antreten, sodass es aussah, als hätten wir bei Scientology eine ganz normale, fröhliche Kindheit, die uns in Wahrheit doch geraubt wurde. So etwas wie Normalität gab es nur noch, weil wir selbst uns praktisch wie Eltern umeinander kümmerten, uns pflegten, wenn wir krank waren, trösteten, wenn wir nicht schlafen konnten, disziplinierten, wenn wir etwas falsch machten, uns zu essen gaben, wenn wir Hunger hatten, und uns bei den Schularbeiten halfen, wenn wir nicht weiterwussten. Ja, wir waren verantwortlich für unsere Arbeit bei den Posten, den Decks, beim Putzen, in der Schule und den scientologischen Kursen – aber vor allem waren wir füreinander verantwortlich.
An den meisten Tagen versuchte ich nur, den Kopf über Wasser zu halten, und die Nächte waren noch schlimmer. Ich hatte furchtbare Angst vor der Dunkelheit. Wenn das Licht gelöscht wurde, hörten wir draußen oft Kojoten heulen, und obwohl die Türen geschlossen waren, wusste ich, dass um uns herum die Wildnis war. Meine ausgeprägte Fantasie erwies mir in der Dunkelheit keinen Dienst. Manchmal wachte ich nachts so panisch auf, dass ich zu einer meiner Freundinnen ins Bett kroch. In den schönsten Nächten träumte ich davon, Freizeit mit meinen Eltern zu verbringen, aber beim Aufwachen kam dann die Enttäuschung, immer noch auf der Ranch zu sein.
So tröstlich es war, meine Eltern in der Nähe zu wissen, so sehr vermisste ich sie dennoch. Zwar half es ein wenig, dass Justin da war, doch er kehrte auch oft auf unangenehme Weise den großen Bruder heraus. In den ersten Monaten auf der Ranch hatte er mir geholfen, mich
Weitere Kostenlose Bücher