Mein Glueck
waren die radikalen Neuerer dieser Jahre, deren Ausführungen man mit Ehrfurcht und vor seinem Steak und der salad bowl sitzend in »Max’s Kansas City« in New York folgte, wo man auch Warhol, John Chamberlain, Robert Rauschenberg, Larry Rivers, Brice Marden, Mark di Suvero, Larry Bell oder David Bowie treffen konnte. Goeritz erklärte mir voller Stolz, er würde ganz allein den Kulturbetrieb Mittelamerikas anführen, und schlug mir vor, ich solle doch auch nach Südamerika ziehen, mich südlicher als er auf dem Kontinent niederlassen und von der kulturellen Wüste profitieren. Ich fände dort garantiert schnell die Notorietät, die er in seiner Wahlheimat Mexiko erreicht habe.
Bei einer meiner weiteren Reisen nach Mexiko, die mich erstmals ans Meer vor der Halbinsel Yucatán, nach Cancún und Tulum führte, wurde ich von Leonora Carrington eingeladen, sie in ihrem Haus und Atelier zu besuchen. Mathias Goeritz hatte sie gebeten, mir etwas über ihre Erinnerungen an Max Ernst zu erzählen. Er hatte zuvor auch eine Begegnung mit María Félix in Cuernavaca organisiert, die Max Ernst liebte und die in ihrer Sammlung auch ein bedeutendes Werk besaß. Das Haus, in dem Leonora Carrington mit ihrem Mann, dem ungarischen Fotografen Imre Weisz, in der Calle Chihuahua im Quartier Colonia Roma lebte, stand in einem Viertel, das sich aus einheitlichen Karrees zusammensetzte. Die niedrigen Häuser waren von Grün umstanden. In den frühen siebziger Jahren schienen die Straßen noch in einem passablen Zustand zu sein. Erst das Erdbeben im Jahre 1985 zerstörte viel in dieser Gegend der Stadt und brach das Pflaster auf. So ist es verständlich, dass Leonora damals aus Mexiko floh und einige Jahre in Chicago verbrachte. Im Haus saß man in der kleinen Küche, trank Tee und ein wenig später am Tag Tequila. Sie führte mich durch die Räume und zeigte mir im Garten ihre Rabatten mit Cannabispflanzen. Sie lud mich ein, am Abend zu einer Haschparty mit Freunden zurückzukommen. Die Begegnung mit der großen Liebe Max Ernsts hatte im ersten Moment etwas Gespenstisches. Zu diesem Eindruck trugen nicht wenig Leonoras eigene Gemälde bei, die alle Wände füllten. In ihnen schwebten Phantomleiber, Rümpfe und zusammengesetzte Wesen, die der Welt von Bosch und Brueghel entstiegen zu sein schienen. In den kleinfigurigen Szenen, die von Angstvisionen bevölkert waren, tauchten Masken und Zeremonien auf, denen man später in Kubricks »Eyes Wide Shut« mit der von Purcells »The Cold song« inspirierten Musik von Jocelyn Pook wiederbegegnen konnte. Andauernd höre ich, wenn ich Leonoras Bilder betrachte, diesen rückwärts gesungenen Song aus dem Maskenball im Film, der wie ein harter, von einem Schrittmacher geregelter Herzschlag keucht. Es waren Bilder, die von einem Alptraum zeugten, der in der Zwangseinlieferung in ein Irrenhaus in Santander endete, die Leonora in Down below beschrieben hat. Die grausame Therapie mit Cardiazol setzte sie entwürdigenden Szenen aus, die an die Hexenverfolgungen, die Inquisition und an Exorzismus denken ließen. Ich hatte mit einem Schlag den Eindruck, etwas Verbotenes zu tun, als würde ich mit fremd gewordenen, toten Erinnerungen die jetzige Zeit infizieren. Mein Einbruch in Leonoras Gegenwart kam mir obszön vor. Ich spürte, dass ihr dies alles sehr weh tat. Als ich Leonora auf Max ansprach, schaute sie mich mit ihren herrlichen tiefschwarzen Augen an und sagte stockend, ganz leise jede Silbe einzeln hervorstoßend: »Max, lebt er noch?« Das war ein erregender, beängstigender Moment. Später sagte sie, dass sie Max außer einigen Malen in New York nie mehr gesehen habe, und auch geschrieben hätten sie sich nicht mehr. Ich fragte, wie es dazu gekommen sei: »Ich glaube, es war eine ziemlich dumme Sache. Wohl wegen Down below . Es scheint, ich hätte einige Dinge in dem Buch erzählt, die er nicht mochte. Aber ich kann mir nicht erklären, was das war. Und ich glaube, Sie werden beim Lesen auch nicht den Grund dafür finden.« Doch nach einem anfänglichen Zögern begann sie zu erzählen, jede Frage zu beantworten. Auch Max zeigte nach meiner Rückkehr eine Reaktion, die ich zunächst nicht verstehen wollte und die ich für Kälte und Gefühllosigkeit hielt. Ich berichtete ihm in Seillans: »Ich war in Mexiko bei Leonora. Soll ich dir berichten?« Er sah mich auf seltsame, nie erlebte Weise an und entgegnete ziemlich ungehalten: »Gut, dann erzähl halt.« In diesem Moment spürte ich in ihm einen
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