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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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gekümmert. Von vielen Gipsen wurde lediglich ein Guss hergestellt. Ich überwachte bei den Gießern die Archive, um zu wissen, wie viele Exemplare der Skulpturen von Max Ernst noch gegossen werden durften. Nur wenige Besucher wurden im letzten Jahr in der Rue de Lille vorgelassen, darunter Eduard Trier und Hans Bolliger. Einmal erschien Aragon, der Max mit einer beispiellosen Geschwätzigkeit überfiel. Er berichtete, dass er selbst während seiner jüngsten Krankheit drei Bücher geschrieben habe. Das hatte er uns im Jahr zuvor, als wir ihn in seiner Wohnung besuchten, bereits voller Stolz mitgeteilt. Man spürte, dass es immer noch darum ging, Max an den früheren Aragon, den des Paysan de Paris und Traité du style , glauben zu lassen. Ich bekam mit, dass ihm unendlich viel an der Anerkennung, ja an der Absolution durch Max lag. Es wurde eine eindrucksvolle Stunde des unversiegbaren Erzählers. Und das war oft so komisch, dass Max vor lauter Lachen Tränen in die Augen stiegen. Etwa als Aragon erwähnte, er habe mit seinem Wagen, der ihm offiziell von der kommunistischen Partei zur Verfügung gestellt worden war, auf der Fahrt zum Friedhof Père Lachaise beinahe einmal André Breton überfahren: »Stellen Sie sich die Schlagzeilen der Zeitungen vor: ›Aragon verschuldet Tod Bretons‹.« Der Zustand von Max verbesserte sich nicht. Monique und ich waren Ende März 1976 für einige Tage zu Krista und Karl Gutbrod nach Crans-Montana gefahren. Wir kehrten an meinem Geburtstag, dem 1. April, zurück und erfuhren am späten Abend, dass an diesem Tag Max gestorben war, einen Tag vor seinem fünfundachtzigsten Geburtstag. Die Zeitungen feierten weltweit groß den Geburtstag und brachten dann einen Tag später die Nachrufe. Ich stürzte sofort in die Rue de Lille, betrat das Zimmer, in dem Max mit geschlossenen Augen lag. Hemmungslos begann ich zu weinen. Es war ein unsäglicher Schmerz. Ich sehe noch vor mir, wie mich Cioran, den ich immer wieder in der Rue de Lille getroffen hatte, kalt und verständnislos musterte. Nicht mehr als vier Freunde durften Dorothea zum Père Lachaise begleiten. Es gab keine Zeremonie und keine Reden. Wir gingen auf dem Friedhof spazieren und begleiteten anschließend die Urne ins Columbarium.
    Max Ernst – das war die tiefste Begegnung in meinem Leben. Zwischen uns herrschte Offenheit und Vertrauen. Ich darf dabei an einen Brief denken, in dem Proust Gaston Gallimard eine Maxime von La Bruyère mitteilte: »Jedes Vertrauen ist gefährlich, wenn es nicht vollkommen ist; es gibt wenige Lebenslagen, in denen man nicht entweder alles sagen oder alles verbergen müsste. Man hat schon zu viel von seinem Geheimnis demjenigen verraten, dem man glaubt, einen Nebenumstand verhehlen zu müssen.«

    Dorothea Tanning und Werner Spies und Henrike Pretzell

    Mein wichtigster Entschluss war sicherlich, dass ich zu Beginn der siebziger Jahre damit begann, der Entstehung der Collage und ihrer Strukturen und Gesetzmäßigkeiten nachzugehen. Es war mir klar geworden, dass Collage für Max Ernst nicht nur ein Begriff war oder ein Vorgehen, das sich allein aufs Technische beschränkte. Auf diese Überzeugung gestützt, konnte ich es wagen, mich an ein Buch über das Prinzipielle der Collage im Werk zu machen. Es wurde eine Arbeit, die mich Tag und Nacht gefangennahm. Die kleinen gelben Pillen von Reactivan, die längst aus dem Verkehr gezogen wurden, halfen, dass ich, ohne müde zu werden, mich lange Monate auf meine Arbeit konzentrierte. Collage erschien als eine persönliche Ideologie des Künstlers, und diese gehörte dank ihm zu den wenigen Ideologien, die eine praktische, tägliche Anwendung im Werk und im Leben verdienten. Was ist Collage anderes als eine Form von Recycling, ein Bekenntnis dazu, dass es nichts Wertloses und Geringfügiges gibt, und schließlich auch, dass man nichts wegwerfen soll? Nach und nach wurde mir dies bei der Entdeckung all der Quellen klar, die der Künstler bei seinen Arbeiten verwendet hatte. Aus dem Müll der Zeit schafft Max Ernst wie ein Alchimist unerhörte, nie gesehene Bilder. Dahinter steckt nicht zuletzt auch ein moralischer Aspekt, seine Ehrfurcht vor jedem Ding und vor jedem Lebewesen. Er selbst konnte mir kaum Angaben machen, die mich auf die Spur des Ausgangsmaterials setzten. Irgendwie war dies verständlich, Collage bedeutet ja schließlich die Vernichtung der Quelle. Alles verschwindet hinter einem neuen Bild. Ich hatte nur herausgefunden, dass die Abbildungen,

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