Mein Glueck
übergreifende Weltsprache der Kunst sich nicht durchgesetzt hatte. Schuld an diesem Verzicht darauf, aus dem Kubismus einen umfassenden Zeitstil zu machen, trug – in den Augen Kahnweilers – kein anderer als Picasso selbst. In einem unerhört vehementen Brief, den er nach seiner Rückkehr in das vom Kubismus gesäuberte Paris an seinen Freund in Prag richtete, wurde der vorübergehende Bruch in den Beziehungen deutlich. So besehen stellt der Brief Kahnweilers ein unerhörtes Dokument dar. Er formuliert Fragen, deren Beantwortung im Grunde immer noch ausstehen: »Lieber Herr Doktor, … was nun den heutigen Zustand der Malerei betrifft, so ist ja allerdings auch hier Picassos Umkehr das große Ereignis gewesen. Es ist sehr schwer, sich darüber klar zu werden. Im Juli 1914 schon hatte mir Picasso zwei ›naturähnliche‹ Zeichnungen gezeigt, und gesagt: ›Nicht wahr, das ist besser als früher‹. Dass Habsucht oder irgendein sonstiger äußerlicher Antrieb eine Rolle in Picassos Umwandlung gespielt hat, halte ich für ausgeschlossen. Aber auf Irrwegen ist Picasso. Wie wird das enden? Zur Zeit macht er gleichzeitig naturähnliche und kubistische Sachen. Auf meine Frage, wie es ihm möglich sei, das zu tun, antwortete er mir: ›All das ist ja unwichtig, die Ausführung allein zählt. Wenn ich im Louvre war und einen Raffael sah, so habe ich das Recht, auch einmal so zu malen …‹ Das scheint mir ein Trugschluss. Man kann, wenn man Picasso ist, sehr wohl an Raffael denken und doch kubistisch malen.« Kahnweiler sucht nach der Ursache dieses Wandels. Er sieht sie in der Isolierung während der Kriegsjahre und schreibt: »Wie kam all das? Picasso stand allein, während des Kriegs. Braque war fort. Es fehlte der Resonanzboden, den Picasso so sehr nötig hat … Ich sehe Picasso wie einen spanischen Tänzer, um den andere sitzen, die mit ›Olé-Rufen‹ ihn anfeuern, um seinem Tanze Leben zu geben. Alle diese bewundernden Freunde waren fort, während des Krieges.« Und der Kunsthändler findet den Schuldigen: »Statt ihrer lernte Picasso den Dichter Jean Cocteau kennen, der ihn in die ›große Welt‹ einführte. Durch ihn kam er auch zu den russischen Balletts, für die er seitdem drei Ballette inszenierte. All das war sehr schädlich für Picasso, der endlich auch eine Tänzerin des russischen Balletts heiratete … So lebt Picasso in diesem Milieu, schön angezogen, rue de La Boétie, in einer großen Wohnung. Ist bei allen Vorstellungen des russischen Balletts in seiner Loge, in Smoking. Und ist unglücklich, unglücklich. Ich kann mir nichts Tragischeres denken als mein Wiedersehen mit ihm. Wie dieser Mann von der Vergangenheit sprach, und von der Gegenwart. Alles war schön in der Vergangenheit, alles hässlich jetzt. Er langweilt sich, er ist unglücklich. Und daran krankt seine Kunst, bei allem Talent, die noch darin steckt.« Und in einem auf den 16. März 1921 datierten Schreiben fügt er hinzu: »Picasso hat sich noch nicht aufgerafft: dass das aber doch eines Tags kommen wird, dafür bürgt uns seine Vergangenheit. Was ihm nottäte, wäre etwas Einsamkeit, Flucht aus der jämmerlichen Gesellschaft, die ihn z.Zt. umgibt. Das denken wir alle, seine alten Freunde.« Dieses Zitat, das eine bittere Kritik an Picasso enthält, wie wir sie sonst nie bei Kahnweiler finden, verrät auf der einen Seite den Schmerz darüber, dass das ästhetische System, das er entworfen hatte, dessen Hauptfigur überhaupt nicht mehr tangierte. Doch andererseits spürt man, dass sich Kahnweiler nun ernsthafte Sorgen über eine mögliche weitere Zusammenarbeit mit Picasso machen musste. Die perfekte Harmonie war, vor allem dank der »Schwägerin« Louise Leiris, erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder völlig hergestellt. Von diesem Moment an akzeptierte und rechtfertigte Kahnweiler auch alle Ausdrucksformen des ihm letztlich wohl unheimlichen Chamäleons. Doch in den Gesprächen gab es überhaupt nichts, bei dem von einer Kritik an Picasso die Rede sein konnte. Ich war damals überzeugt, dass der Einfluss von Michel Leiris und die Ästhetik des Hässlichen, zu der der Surrealismus immer wieder griff, Kahnweiler in diesen späten Jahren beschäftigte. Denn sein ständiger Hinweis darauf, dass Kunst nicht gefallen müsse oder gefallen dürfe – ein Hinweis, der, wie ich ihm erklärte, sich ebenso auf Kant wie auf eine für ihn typische, von ihm selbst zugegebene schwäbische jüdisch-protestantische Ablehnung des
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