Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
ich nun das Abendessen bin? , dachte Oliver. »Mit dem größten Vergnügen«, entgegnete er.
Ihre Mähnen um seine Handgelenke schlingend, nahmen Ondine und Kyrie ihn ins Schlepptau. Marina zog sein Kinn zu sich heran und küsste ihn noch einmal. Der Kuss roch faulig und schmeckte nach Fisch, aber er füllte seine Lungen mit Sauerstoff.
Sie kamen zu einer tiefen Höhle, deren Eingang mit Stalagmiten und Stalaktiten besetzt war. Oliver schnitt sich daran die Beine auf, als die Meerjungfrauen ihn ins Innere der Höhle schleppten. Blut strömte aus seiner Wade und er zuckte zusammen. Das Blut kringelte sich im Wasser wie roter Rauch, doch bevor Oliver auch nur vor Schmerz aufschreien konnte, nahm er eine jähe Bewegung wahr: Ein riesiger, silberner Hai schoss auf ihn zu. Ondine löste ihr Haar von seinem Handgelenk und wandte sich dem Hai zu, die Augen rot funkelnd und sämtliche Schuppen an ihrem Körper aufgestellt. Mit aufgefächerten Kiemen stieß sie einen Schrei aus, woraufhin sämtliche Fische in der Nähe die Flucht ergriffen. Als der Hai abtauchte und wegschwamm, legten sich Ondines Schuppen wieder an und das Leuchten ihrer Augen wurde schwächer, jetzt waren sie wieder ruhig und dunkelviolett. »Komm«, wisperte sie, und einen Augenblick starrte Oliver dieses Geschöpf, das ihn in seiner Kielwelle hinter sich herzog, sprachlos an.
In der Mitte der Höhle thronte ein riesiger Steintisch, oder vielleicht war es auch der Altar, auf dem Oliver geopfert werden sollte. Im hinteren Teil führte eine runde Tür aus Treibholz in einen weiteren Raum; auf der anderen Seite stand halb im Sand vergraben eine goldene Truhe mit einem riesigen Vorhängeschloss.
Oliver sah erst zur Tür, dann zur Truhe. Möglicherweise enthielt sie Schätze, mit denen er Seraphimas Entführer bestechen konnte. Aber es war ebenso vorstellbar, dass er aus dieser Höhle nicht lebend entkam.
»Ein Hochzeitsfest«, rief Marina. »Und ich bin die Braut!«
»Nein, Schwester«, kreischte Ondine. »Zu früh gefreut.«
»Ihr seid beide auf dem Holzweg«, mischte sich Kyrie ein. »Dieses Mal bin ich an der Reihe.«
Dieses Mal? , dachte Oliver. Wie viele andere Männer seines Reiches waren diesen bösartigen Nixen bereits zum Opfer gefallen und hatten hier ein nasses Grab gefunden? Er musste hier raus, und zwar schnell, denn er begann schon wieder Sternchen zu sehen.
Kyrie schlang ihre langen Finger um seine Schultern und küsste Atem in seine Lungen. »Siehst du, mein Liebling«, hauchte sie. »Du brauchst mich ebenso sehr wie ich dich.«
Wenn das Liebe war, lohnte sich die ganze Mühe vielleicht gar nicht. Oliver war mit einer Mutter aufgewachsen, die ihren Liebsten verloren hatte, und die Wunde in ihrem Herzen war nie ganz verheilt. Diese Meerjungfrauen litten genauso an der Liebe, aber auf andere Art.
»Ich bin wohl kaum angemessen gekleidet für eine Hochzeit«, wandte Oliver ein.
»Wir haben da etwas Passendes für dich«, sagte Ondine. Sie schwamm zur Treibholztür und zog den Riegel zurück. Als die Tür aufschwang, trieb ein Gewirr aus Skeletten in die Höhle – es waren Hunderte, die kunterbunt durcheinander schwammen, bei manchen hing noch das faulende Fleisch an den Knochen. Mit einem entsetzten Aufschrei drängte Oliver sich mit dem Rücken an Kyrie, die ihm über die Haare strich und in den Nacken küsste. »Nur nicht so schüchtern«, sagte sie und versetzte ihm einen Schubs.
Die Meerjungfrauen schwammen um eine der Leichen herum, die eine kostbare weiße, golddurchwirkte Königsrobe trug. Oliver hatte jedoch kein Auge für diese Pracht. Sein Blick heftete sich auf das Gesicht des Toten, in dessen Züge noch das Grauen eingemeißelt war.
»Ich denke«, sagte Marina, »das dürfte genau passen.«
Kyrie hinter ihr kreischte auf. »Nimm ihn ab!«, rief sie. »Der gehört mir.« Als Oliver herumwirbelte, sah er, dass sie mit Ondine um ein zerfleddertes Stück Schleier raufte. Dabei rissen die beiden Meerjungfrauen den feinen Stoff mit ihren Fingernägeln in Fetzen.
»Meine Damen«, sagte Oliver. »Ich liebe keine von euch.«
Die Meerjungfrauen schnellten herum, ihre Augen funkelten in einträchtigem Rot. »Wie kannst du es wagen«, fauchte Ondine.
Marina kreuzte die Arme. »Du denkst also, du bist zu gut für uns?«
»Nein«, entgegnete Oliver schlicht. »Ich glaube nur, ihr liebt mich auch nicht. Aber sollte es bei einer wahren Romanze nicht genau darum gehen? Seinen Seelenverwandten zu finden? Jemanden, von dem man
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