Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
aus der Hand. Ich weiß, dass Oliver und die anderen dadurch ins Trudeln geraten, aber trotzdem schlage ich das Buch auf und blättere es geschwind durch, ohne es zu lesen. Dann drücke ich es an die Brust. »Gott sei Dank! Ich dachte, ich hätte es verloren!«
Meine Mutter schüttelt den Kopf. »Aus genau diesem Grund fahren wir zu Dr. Ducharme, Delilah.«
» Jetzt ?« Ich war überzeugt gewesen, meine Mutter würde erst Monate später einen Termin bekommen. Und bis dahin hätte sie den Psychiater vielleicht schon vollkommen vergessen und wir könnten einfach nicht hingehen.
»Deswegen muss man sich nicht schämen. Er wird sich nur ein bisschen mit dir unterhalten. Dir dabei helfen herauszufinden, was dich traurig macht.«
Zornestränen schießen mir in die Augen. Ich bin nicht traurig; ich habe es satt, ständig gesagt zu bekommen, wie ich mich angeblich fühle. »Ausgerechnet du«, sage ich. »Ausgerechnet du schleppst mich zu einem Psychiater, dabei kapselst du dich seit fünf Jahren total ab! Anscheinend ist es vollkommen normal, die ganze Zeit zu schuften und sich abzurackern, denn dann merkt man nicht, wie deprimierend das eigene Leben ist!«
Meine Mutter zuckt zusammen, als hätte ich ihr eine Ohrfeige versetzt. »Du hast keine Ahnung, wie das für mich war, Delilah. Ich hatte eine Tochter großzuziehen, ganz allein, ohne richtiges Einkommen. Ich schaffe es kaum, die Hypothek zu bezahlen. Irgendwie kratze ich das Geld zusammen, damit du aufs College gehen kannst. Eine von uns muss erwachsen sein, und das bedeutet, zwischen Realität und Fiktion unterscheiden zu können.«
»Ich kann sehr wohl zwischen Realität und Fiktion unterscheiden!«, schreie ich. Aber noch während ich es sage, frage ich mich, ob das tatsächlich stimmt. Ob dieser Unterschied überhaupt eine Rolle spielt, wenn man sich die ganze Zeit wünscht, es gäbe ihn nicht.
Seite 37
Oliver wusste nicht mehr, wie lange es her war, seit Scuttle und Walleye ihn unter Deck eingesperrt hatten. Das Schiff rollte im Sturm und kämpfte gegen die Wellen an; hin und wieder spürte Oliver, wie das Gebälk unter der Gewalt von Blitz und Donner erzitterte.
Was auch immer notwendig sein mochte, um eine Prinzessin zu retten – als Opfersklave eines Piratenkapitäns zu enden war nicht vorgesehen, da war er sich ziemlich sicher.
Er zerrte an seinen Ketten, aber sie gaben keinen Millimeter nach. Am Boden stand das Tablett mit dem Abendessen, das er verweigert hatte – mit dem Schiffszwieback, der sich bewegte. Besser gesagt, es war nicht der Schiffszwieback, der sich bewegte, sondern die darin wimmelnden Würmer.
Er fragte sich, warum sie sich überhaupt die Mühe machten, einen Gefangenen zu verköstigen, der doch nur an Bord war, um einen ziemlich übellaunigen, ziemlich hungrigen Drachen als besonderen Leckerbissen zu besänftigen. Eben jenen Drachen, den Rapscullio sechzehn Jahre zuvor herbeigezaubert hatte – der seinen Vater getötet hatte – und der jetzt am Kap der Gezeiten ihrem Schiff auflauerte und es davon abhielt, seinen Weg fortzusetzen. Vielleicht musste Oliver noch ein wenig an Gewicht zulegen, um als leckeres Häppchen durchzugehen.
Er fragte sich außerdem, was aus Socks und Frump geworden war, die er zuletzt am Strand gesehen hatte, als die Matrosen ihn an Bord zerrten. Wie lange es wohl dauern würde, bis Kapitän Crabbe selbst auftauchte, um seinen Gefangenen an Deck zu holen und über die Planke auf die erwartungsvoll herausgestreckte Feuerzunge des Drachen zu schicken?
Metall schabte auf Metall, als die Tür seiner Zelle aufschwang. Der Piratenkapitän trat ein und verengte die Augen zu Schlitzen. »Meine Männer sagen, du weigerst dich zu essen?«, grollte Kapitän Crabbe. »Weißt du, was wir mit Gefangenen tun, die nicht gehorchen?«
Er ging zu dem Tisch, der am Boden festgeschraubt war, damit er nicht umfiel, wenn das Boot schlingerte und schwankte. Von seinem Platz an der Wand, an die er mit Ketten gefesselt war, sah Oliver zu, wie der Kapitän eine Samtrolle hervorholte. Er schnürte sie auf und breitete den Stoff aus. Aus den eingenähten Taschen blitzten Folterinstrumente.
Allerdings keine Dolche, Daumenschrauben und Messer.
Im Jahr zuvor war Königin Maureen das Diadem vom Kopf gefallen, als sie über die Einhornwiese ritt. Zwar hatte man die Krone inzwischen wiedergefunden, aber sie war so verbeult, dass sie repariert werden musste. Königin Maureen hatte einen Spezialisten für Kronenreparatur rufen
Weitere Kostenlose Bücher