Mein irischer Held
sein. Trotzdem fühlte sie sich innerhalb der Burgmauern noch all jenen zu nah, die hier lebten. So beschloss sie, durch das Außentor zu gehen. Niemand hielt sie auf. Tief aufatmend blieb sie stehen und ließ den Blick über die weiße Landschaft schweifen.
Sie fragte sich, wie Hughs Pläne wohl aussehen mochten.
In Anbetracht des Wetters hatte er vermutlich seine Bemühungen, sie zu finden, erst einmal aufgeben müssen, überlegte sie. Aber vielleicht hatte er ja längst erfahren, wo sie sich aufhielt. Wer konnte wissen, wo überall seine Späher waren? Sie war seit mehreren Tagen auf Laochre, Zeit genug, um die Kunde von ihrem Aufenthaltsort in der Umgebung zu verbreiten.
Tatsächlich hatte Genevieve während der letzten Tage manchmal das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Sie versuchte sich einzureden, dass das Unsinn sei. Aber ihre Sorge blieb. Nachts wachte sie beim kleinsten Geräusch auf. Ihr Herz klopfte dann voller Angst, und sie musste sich in Erinnerung rufen, dass Bevan ihr eine Reihe von Tricks verraten hatte, wie sie sich gegen Angreifer zur Wehr setzen konnte. Aber würde sie überhaupt in der Lage sein, sich zu wehren? Sie kam sich schwach und hilflos vor. Manchmal schalt sie sich sogar, ein Feigling zu sein. Sie schämte sich dafür, dass Hugh, selbst wenn er weit fort war, solche Macht über sie hatte.
Wahrhaftig, es war an der Zeit, ihre Angst zu besiegen. Weder Hugh noch seine Männer würden hier plötzlich vor ihr stehen und sie mit Gewalt nach Rionallís zurückbringen.
Sie erschrak, als unerwartet eine Gestalt vor ihr auftauchte. Dann erkannte sie, dass es einer von Patricks Saldaten war. Erleichtert atmete sie auf.
„Ihr solltet bei diesem Wetter im Warmen bleiben“, sagte der Mann auf Gälisch. Sein Ton war ehrerbietig, aber gleichwohl konnte kein Zweifel daran bestehen, dass er sie daran hindern würde, sich weiter von der Burg zu entfernen.
Genevieve lächelte ihn an. „Eure Sorge ist unbegründet. Ich will nur einen kleinen Spaziergang machen. Ich werde nur so weit gehen, dass Ihr mich im Auge behalten könnt.“
„Also gut.“
Langsam schritt sie den Hang hinab. Die Landschaft wirkte sehr friedlich. Alles war still. Ein einzelner Baum, dessen Zweige sich unter der Last des Schnees bogen, stand am Weg. Weit und breit gab es keinen Platz, an dem ein Feind sich verbergen konnte. Hier würde ihr nichts geschehen.
Mit einem Mal war ihre Angst verschwunden, und Genevieve fühlte sich wunderbar frei. Am liebsten hätte sie vor Freude laut gelacht. Wie lange würde sie diese ungewohnte Empfindung genießen können? Würde sie schon bald ihre Freiheit aufgeben müssen, um in einem unsichtbaren Gefängnis zu leben? In einem Gefängnis, das der Stand der Ehe ihr auferlegen würde? Nein, es erschien ihr wirklich nicht wahrscheinlich. Ihr Vater würde sicher andere Pläne mit ihr haben, wenn die Verlobung mit Hugh erst gelöst war. Und Bevan hatte ihr sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass er sie nicht heiraten wollte – obwohl er sie geküsst hatte …
Patrick hatte gesagt, Bevan würde sich seinen Wünschen beugen. Der größte Vorteil, den die von ihm angestrebte Hochzeit zwischen ihr und ihm mit sich brachte, war zweifellos das Ende der Auseinandersetzungen um den Besitz von Rionallís. Wenn Bevan wieder der rechtmäßige Herr von Burg und Land war, würde er sich vielleicht damit abfinden, dass seine Gemahlin zum Volk der Normannen gehörte. Vielleicht konnte sich sogar eine Freundschaft zwischen ihnen entwickeln.
Die Vorstellung gefiel ihr. Sie würden nach außen hin ein Ehepaar sein, aber keiner würde versuchen, den anderen einzuengen. Sie würden – sozusagen – eine geschäftliche Verbindung eingehen, die beiden Seiten Vorteile brachte. Ja, genau davon würde sie Bevan überzeugen müssen. Dann war er sicher bereit, mit ihr vor den Altar zu treten.
Ein seltsamer Laut riss Genevieve aus ihren Überlegungen. Bisher war es so still gewesen, dass selbst der Ruf eines Vogels Aufmerksamkeit erregen musste. Genevieve schaute sich um. Nirgends war ein solcher zu sehen. Es gab auch weit und breit keine anderen Lebewesen. Aber da war der Ruf noch einmal.
Sie lauschte. Und dann wurde ihr klar, dass sie möglicherweise den Schrei eines Kindes gehört hatte, einen Hilfeschrei.
Genevieve raffte ihre Röcke und rannte los.
Am Fuß des Hügels befand sich ein kleiner Teich. Er war zugefroren, das Eis von blendend weißem Schnee bedeckt. Doch beinahe in der Mitte war ein
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