Mein irischer Held
dunkler Fleck zu erkennen. Ein Loch im Eis. Und in dem Loch eine kleine Gestalt!
Genevieves Herz klopfte zum Zerspringen. Würde sie das Kind vor dem Ertrinken retten können? Es rief jetzt nicht mehr um Hilfe, aber die kleinen Hände griffen immer wieder nach dem festen Eis, rutschten jedoch wieder und wieder ab.
„Ich komme dir zu Hilfe, mein Kleiner“, rief Genevieve auf Gälisch, obwohl sie keineswegs sicher war, dass das Eis sie tragen würde. „Halte durch! Ich bin gleich bei dir.“
Vorsichtig legte sie sich auf die glatte Fläche und schob sich voran. Es ging unerträglich langsam, aber sie durfte nicht riskieren, ebenfalls einzubrechen. Das Eis knirschte, aber noch zeigten sich keine Risse.
Dann waren die Kinderhände endlich in Reichweite. Genevieve umfasste sie mit aller Kraft und zog. Ein lautes Knacken war zu hören, und Genevieve landete im Wasser. Vor Angst schrie sie gellend auf. Doch gleich darauf hatte sie den Schock überwunden. Noch immer hielt sie die Hände des Kindes umklammert, ihre Füße hatten gleichwohl Grund gefunden. Dem Himmel sei Dank, das Wasser war nicht tief!
Trotzdem war es beinahe unmöglich, das Ufer zu erreichen. Genevieves nasse Röcke klebten an ihren Beinen. Die Kälte des Wassers führte dazu, dass sie sich kaum rühren konnte. Und dann war da auch noch das Eis. Wenn sie versuchte, sich auf dieses zu stemmen, brach es. Aber es wollte nicht zerbersten, wenn sie sich einfach einen Weg hindurch bahnen wollte. Sie presste den jetzt reglosen Körper des Kindes an sich und rief, so laut sie nur konnte, um Hilfe.
Glücklicherweise hatte der Wachposten sie die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen. Schon als sie losgerannt war, lief er sofort hinter ihr her. Ein zweiter Wachmann folgte ihm. Die beiden erreichten das Ufer des kleinen Teichs beinahe gleichzeitig. Einer nahm Genevieve das Kind ab, während der andere nach ihrer Hand griff und sie aus dem eisigen Wasser zog.
Sie zitterte. Noch nie in ihrem Leben war ihr so kalt gewesen. Ihre Zähne schlugen aufeinander, ihr Körper fühlte sich steif an, wenn sie ihn überhaupt noch spürte. Ohne die Hilfe der Soldaten wäre sie nicht in der Lage gewesen, den Hügel hinaufzusteigen und die Burg zu erreichen.
Sie bemerkte kaum, wie sie das äußere Tor durchschritten. Menschen strömten herbei. Irgendwer rief: „Wir brauchen Decken. Und das Feuer in der Kemenate soll geschürt werden.“
Sie erreichten die innere Mauer und gleich darauf das Hauptgebäude der Burg. Isabel war bereits benachrichtigt worden und hatte die Dinge in die Hand genommen. Mit ruhiger Stimme erteilte sie den Mägden Befehle. Dann wandte sie sich Genevieve zu. „Kommt mit mir.“
Sie warf einen Blick auf das Kind, um das sich inzwischen mehrere Frauen bemühten. Das kleine Gesicht hatte sich bläulich verfärbt. Doch eine der Mägde rief Genevieve beruhigend zu: „Der Junge lebt.“
Isabel griff nach ihrem Arm. „Kommt!“
Genevieve machte einen Schritt nach vorn – und sah sich plötzlich Bevan gegenüber. „Was zum Teufel habt Ihr getan?“, stieß er hervor.
Es fiel ihr schwer zu sprechen, ihre Zähne klapperten noch immer. Aber schließlich brachte sie zwei kurze Sätze hervor: „Das Kind ist eingebrochen. Ich musste es retten.“
„Ihr hättet die Burg nicht verlassen dürfen!“ Bevan schien außer sich vor Zorn zu sein.
„Ich bete darum, dass ich nicht zu spät gekommen bin“, murmelte Genevieve.
„Das Kind ist am Leben“, erklärte Isabel.
„Ihr hättet mit ihm zusammen sterben können.“ Bevan wollte sich nicht beruhigen.
„Meine Mägde sind bei dem Jungen“, mischte Isabel sich erneut ein. „Und ich werde mich jetzt um Genevieve kümmern.“
„Wartet“, bat diese. „Ich möchte bei ihm bleiben, bis ich weiß …“
„Nein“, unterbrach Bevan sie. „Ich selbst werde dafür Sorge tragen, dass alles Menschenmögliche für ihn getan wird. Ihr geht mit Isabel und zieht Euch endlich etwas Trockenes an.“
„Kommt“, bat Isabel zum dritten Mal. Diesmal folgte Genevieve ihr.
In der Kemenate brannte ein helles Feuer. Tücher zum Abtrocknen lagen bereit und wollene Decken, in die Isabel die Normannin hüllte, nachdem sie ihr geholfen hatte, die nasse Kleidung abzulegen und sich kräftig trockenzureiben.
Eine Magd erschien mit einem dampfenden Becher.
„Trinkt das“; befahl Isabel.
Es schmeckte scheußlich. Aber Genevieve spürte, wie etwas Gefühl in ihre tauben Hände und Füße zurückkehrte. Ihre Haut
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