Mein irisches Tagebuch
Reihen der Kirche zu suchen.
Charakteristisch für irische Eltern ist, so die Zeitungen, daß sie die Zeichen für sexuellen Mißbrauch ihrer Kinder ignorieren, was natürlich mit der traditionellen Tabuisierung der Sexualität zusammenhängt. Obwohl in den letzten Jahren immer wieder über sexuelle Vergehen an Kindern berichtet wurde, werden ihre frühen Signale nach wie vor nicht wahrgenommen, oder wollen nicht wahrgenommen werden. Innerfamiliärer Mißbrauch wird nahezu grundsätzlich verschwiegen. Auch ist es erstaunlich, wie oft Eltern ihre Kinder Leuten anvertrauen, die sie nur oberflächlich oder gar nicht kennen.
Obwohl der sexuelle Mißbrauch von Kindern zu den scheußlichsten Verbrechen zählt, widmet ihm die Justiz bisher nicht die Aufmerksamkeit, die ihm zukommt. Die Reaktion der Kirche in den zahlreichen Fällen, in denen Priester angeklagt werden oder verurteilt worden sind, kann man sich unklüger nicht vorstellen: Nicht die Täter in den eigenen Reihen, sondern die Medien werden für die in Gang gekommene öffentliche Diskussion verantwortlich gemacht.
Diese Umkehrung des Übels hat unter liberalen Publizisten Irlands eine Empörung ausgelöst, die der Auseinandersetzung verbal und geistig ein neues Stadium beschert hat. Ihr Wortführer ist Conor Cruise O’Brian, einer der bekanntesten Publizisten und ständigen Kommentatoren des »Irish Independent«. Hier eine komprimierte Zusammenfassung seiner schneidenden Abrechnung mit klerikaler Heuchelei und Verdrehung:
Wer die öffentliche Diskussion über den sexuellen Mißbrauch von Kindern den Medien anlastet, der packt das Übel nicht an der Wurzel - der verlogenen Sexualmoral und dem Zölibat. Wenn die Medien mit den Kirchenoberen kollaboriert hätten, wenn sie willig gewesen wären, all die durch Priester begangenen Sexualdelikte zu vertuschen, wie in den »guten alten Tagen«, dann hätte die Kirche nichts gegen die Medien gehabt. Nur hätte sie dann besser ausgesehen, als sie in Wirklichkeit ist.
Die Kirche, so Conor in seiner Generalabrechnung, fährt auf den üblen Pfaden der Vergangenheit fort, die Praktiken von Priestern zu verdecken und das Vertrauen, das die Kinder und ihre Eltern der Kirche entgegenbringen, institutionell zu mißbrauchen. Werden solche Übergriffe von den Medien öffentlich behandelt, was ihr Recht und ihre Pflicht ist, dann werden sie von der Kirche angegriffen. Leidet die Institution Kirche aber durch das, was sie getan hat, dann leidet sie zu Recht - durch ihr Verschweigen.
Sollten die in diesen Mißbrauch verstrickten kirchlichen Autoritäten tatsächlich an das Evangelium glauben, wie sie ständig predigten, dann wüßten sie, daß sie für ihren Verrat an den Kindern die schlimmste Strafe verdient hätten, nämlich »mit einem Mühlstein um den Nacken im Meer versenkt zu werden«.
Die Kirchenherren wären gut beraten, so Conor Cruise O’Brian in seiner Schlußfolgerung, ihre Anklagen gegen die Medien einzustellen, denn diese reflektierten die öffentliche Meinung weit mehr, als daß sie sie formten. Der größte Wandel in Irland hat sich nicht in den Medien, er hat sich im Volk getan. Die alte Ehrerbietung ist verschwunden, und nichts wird sie wieder zurückbringen. Wie das alte Vertrauen, das nicht fragte und ebenfalls dahin ist, »da wir nun wissen, wie schändlich es mißbraucht worden ist. Wenn heutzutage ein Bischof das Vertrauen des Volkes erwerben will, dann hat er es zu gewinnen und nicht als sein Recht zu beanspruchen.«
Soweit Conor Cruise O’Brians weithin gelesene und beachtete Stimme.
Das sind für Irland neue Töne, unerhörte Sätze, die lange niemand auszusprechen gewagt hätte. Aber es ist die irische Wirklichkeit selbst, ihre soziale und politische Not, die sie hervorzwingen. Für viele gläubige Iren jedoch kann immer noch nicht wahr sein, was nicht wahr sein darf. Es kratzt an dem Selbstbildnis, das die katholische Hierarchie Irlands von sich und der Kirche entworfen hat und das so lange kritiklos hingenommen worden ist.
Ich glaube, mich sogar in die Lage der Kirche versetzen zu können, weil mir hier etwas Seltsames widerfährt: nämlich an mir selbst festzustellen, wie schwer es ist, eine liebgewordene, aber offenbar doch nicht richtige Ansicht zu korrigieren. Wer mich fragt, welches Volk meinen Kenntnissen nach das freundlichste und umgänglichste sei, dem werde ich immer noch antworten: das irische. Aber ich tue es inzwischen mit Einschränkungen, und das hängt zusammen mit dem
Weitere Kostenlose Bücher