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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Giordano
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der vielbefahrenen N 22 kommend, verfranze ich mich auch diesmal bereits am Stadtrand hoffnungslos. Nachdem ich eine volle Stunde brauchte, um bis zur Innenstadt vorzudringen, bleibe ich dort endgültig stecken. Gerade als ich resigniert aufgeben und mit dem Koffer weitergehen will, klopft ein älterer Herr ans Wagenfenster: »Sie sehen so ratlos aus - kann ich Ihnen helfen?« Bedrückt nenne ich mein Ziel. Er geht um den Wagen herum, steigt ein, lotst mich mit freundlichen, aber energischen Hinweisen durch den Verkehrswirrwarr der City von Cork und findet mühelos das Hotel »Metropol«. Dann verschwindet er lächelnd, kaum daß ich ihm meinen Dank abstatten konnte. Eine gute Lehre - der Wagen kommt sofort in die Garage und wird dort bis zur Abreise bleiben. Auch in Cork ist man heute per pedes am schnellsten.
    Sein Zentrum liegt zwischen dem North Channel und dem South Channel des River Lee, und die St.-Patrick’s-Brücke, wenige Schritte vom »Metropol« entfernt, führt direkt in die Stadtmitte.
    Ich beuge mich über das Geländer - träge fließt das Wasser seewärts und mit ihm allerlei Treibgut, Papier, leere Flaschen, große Schmutzplacken. Möwen lassen sich auf dem Wasser nieder, fliegen aber gleich wieder auf, als fürchteten sie sich, vergiftet zu werden. Eine Plakette verkündet einem uninteressierten Publikum, wer den Grundstein für die Brücke legen ließ und wann: der Earl of Carlisle, Lieutenant Sir John Arnott, Mitglied des Londoner Parlaments und Bürgermeister am 10. November 1859. Also noch zu Zeiten der britischen Herrschaft über Irland, an die mit guten Gedanken zu erinnern gerade die Corker wenig Grund hatten. Während der Höllenlärm der rush hour über St. Patrick’s Bridge liegt, rekapituliere ich meine historischen Kenntnisse der Stadtgeschichte.
    Der Name Cork stammt von Corcaight, was auf gälisch »sumpfiger Ort« heißt und eine Gründung des heiligen Finbarr aus dem 7. Jahrhundert war. Nachdem die Wikinger den Ort 820 und später noch mehrere Male überfallen und gebrandschatzt hatten, betritt mit den Anglonormannen 1172 der übermächtige Nachbar England unter Heinrich II. die irische Szene - und dabei wird es auch hier bis in unser Jahrhundert bleiben. Dazwischen wechselte eine bunte Reihe von Eroberern einander ab, nimmt 1495 der britische Kronprätendent die Stadt ein, werden die Einwohner 1644 vertrieben, wenige Jahre später die Zurückgekehrten von Cromwells Truppen massakriert und 1690 die Befestigungen geschleift. Im irischen Unabhängigkeitskampf gegen die britische Militärmacht verlieren 1920 zwei Bürgermeister ihr Leben und brennen große Teile der Stadt nieder. Wahrlich, Cork hat seinen Teil abbekommen.
    Die Gegenwart hat allerdings auch ihre Härten.
    Auf der Brücke sitzt ein Betder, eingemummt, und hält den Passanten einen roten Becher hin. Zehn Schritte weiter spricht mich ein junges Mädchen, nein, ein Kind von zwölf, dreizehn Jahren an und will Geld. »Wofür? Hasch, drugs ?« - »Nein«, sagt sie ganz ernsthaft, »für Essen.« Zwei Minuten später hat sie auf der Brücke einen jungen Mann angesprochen, verhandelt offenbar mit ihm, sieht zu mir hin und winkt mir freundlich zu.
    Am Eingang des großen Kaufhauses am Merchant’s Quay hockt ein junger Mensch, neben sich einen schottischen Schäferhund und ein Pappschild, auf dem steht: »Würden Sie bitte einem Mann und einem Hund helfen, die hier gestrandet sind? Danke und Gott segne Sie.«
    Bilder, wie ich sie in der Provinz nicht gesehen habe.
    St. Patrick’s Street, der große Korso, birst vor Energie - Massen von Menschen, als wäre die ganze Einwohnerschaft der Insel in dieser buntscheckigen Verkaufsallee zusammengekommen. Blauweiß gestrichene Gebäude mit römischen Rundbögen, Fassaden von tristestem Schwarz, dann wieder anheimelnde Giebelhäuser, grün-weiß, entzückende Balkons, und auf dem Dach von Tracey’s Shoes schlägt ein großer Busch aus.
    Weiter - Marks & Spencer, unvermeidlich; Men’s wear und Boy’s wear, mit Hemden bis oben vollgestopfte Schaufenster; Optiker neben Pubs; rot-grüne Fahnen in der Eingangstür eines indischen Restaurants; »Castelli Romani«, Leuchtzeichen schon am hellichten Tage; etwas weiter der Name einer Gaststätte in chinesischen Schriftzeichen. Und Werbung, Werbung, Werbung, wohin das Auge fällt - für Beauty Saloons, für Aer Lingus, die nationale Luftlinie, für Clancy’s Food and Drink und, wolkenkratzerhaft, für Toyota.
    Die kühl verglaste Oper, auf

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