Mein ist dein Tod
ihn fest, zwei an jeder Seite, und führen ihn in die Kammer. Schritt für Schritt, ganz langsam, denn der Schwarze sieht aus, als bräche er jeden Moment zusammen. Und noch mehr Schweiß. Er rinnt wie Wasser über den Körper des Mannes, den sie vor sich herschieben, sanft drehen und auf den Stuhl setzen. Die Beamten sind sehr freundlich, sehr zuvorkommend.
Strom!
(Fahre fort, mein Sohn!)
Der Mann weiß, dass der Strom kommt und ihn töten wird. Da er vielleicht mehr als 20 Jahre gewartet hat, weiß er auch, was geschehen kann. Er kennt die Geschichte von William Kemmler, der 1890 als erster Mensch auf dem Stuhl hingerichtet wurde. Er kennt die Geschichte dieses Mannes, der nach einer Minute immer noch lebte und sich erbrach und trotzdem getötet wurde. Es hatte sehr lange gedauert. Oder die Story von Leuten, die regelrecht brannten, deren Schädel loderte n. Das wird schmerzen. Das wird richtig weh tun, wenn er Pech hat.
Zuerst wird der Schwarze mit breiten Ledergurten am Stuhl fixiert. Danach werden ihm Elektroden am kahlgeschorenen Kopf befestigt. Eine weitere Elektrode platzieren die Beamten am Unterschenkel. Und schließlich der Clou. Ein mit Kochsalzlösung getränkter Schwamm wird zwischen Elektrode und Kopfhaut befestigt, damit der Strom ungehindert fließen kann.
Max blickt dem Mann in die Augen. Kriecht immer näher an das Fernsehbild heran. Augen, die nicht mehr die eines Menschen sind. Pure Panik. Unfassbare Angst. Groß e, weiße Kugeln im schwarzen Gesicht. Ein Beamter zurrt ihm die Stirn mit einem Lederriemen fest, damit er nicht mit dem Kopf wackeln kann, wenn die Qual beginnt. Oh Mann, er hat schon zwanzig Jahre gesessen. Warum jetzt auch das noch? Und immerzu der Schweiß. Als übergieße man den Mann mit Öl.
Der Delinquent hat Todesangst, ist sich nur noch dieser einen Sache bewusst. Dass gleich, vielleicht nach höllischen Schmerzen, alles still sein wird. Dunkel. Aufgelöst für immer. Ohne Hoffnung. Das totale Ende. Nichtsein. So wie vor der Geburt. Das sagen seine Augen, die mutmaßlich in wenigen Sekunden zu kochen beginnen und aus den Höhlen fallen, was jedoch niemand sehen wird, da man ihm eine schwarze Maske über das Gesicht zieht.
Max kommt es wie Stunden vor, bis der Strom eingeschaltet wird.
Strom, der tötet, von Menschen, die töten wollen.
Sie alle sind Mörder!
Jeder Mensch ist ein Mörder!
Als Max den Videorekorder ausschaltet, weint er und findet kein Ende. In dieser Nacht wird er sich besaufen.
Er ist achtzehn.
19
Berlin, 2013
Lena hatte stets gerne mit Jungen gespielt. Um genau zu sein, sie hatte lieber mit Jungen gespielt als mit Mädchen. Mädchen jammerten, wenn sie hinfielen, zickten, wenn sie sich einen Winkelhaken rissen, und wenn sie stritten, waren sie unversöhnlich. Jungen hingegen rauften, holten sich blaue Flecken und Kratzer, danach vertrugen sie sich wieder. Mit Jungen konnte man Spaß haben.
Zumindest hatte sie das gedacht, bis zu jener Nacht, die ihr Leben verändern sollte. Da war es vorbei mit dem Spaß und den Jungen. Seither glich Lena einer wachsamen Katze, die durch die Stadt schlich. Sah sie Grüppchen mit jungen Männern, schoss ihr Blut ins Gehirn, jedenfalls kam es ihr so vor, und ihr Körper fing an zu beben.
Lena war, solange sie denken konnte, eine rational denkende Person gewesen, aber Spaß nie abgeneigt. Sie hatte gerne mit Jungen gefeiert, mit ihnen gesoffen, nackt im Badesee getollt und hatte sich dennoch ihre Jungfräulichkeit bis zum sechzehnten Lebensjahr bewahrt. Deniz war ihr zweiter Mann gewesen, entsprechend hatte sie ihn geliebt. Sie war bereit gewesen, ihre Familie für den hübschen Türken zu verlassen. Vater und Mutter waren komplett durchgedreht, als sie ihnen sagte, sie sei mit einem Türken zusammen, und als Lena über Integration zu sprechen versuchen, redete sie gegen konservative Wände an.
» Er wird dich schlagen!« Vater.
» Seine Familie wird dich wie einen Hund behandeln.« Mutter.
» Du wirst in einer reinen Männerwelt leben, in der du nichts zu melden hast!« Vater.
»Er wird dich vergewaltigen, wann immer er will!« Mutter.
»Wenn du mir einen Kümmel mit nach Hause bringst, bist du die letzte Zeit unsere Tochter gewesen!« Vater.
»Tu uns das nicht an, Lena. Was sollen die Nachbarn denken?« Mutter.
Das alles war Unsinn, wie Lena erfreut festgestellt hatte. Deniz’ Familie hatte fortschrittlichere Ansichten als ihre bürgerlichen Eltern, und sie schämte sich für die Vorurteile,
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