Mein ist dein Tod
Prävention nennt. Ich halte das für Unsinn.«
» Warum, Max?«
» Für die meisten Menschen sind gewalttätige Situationen ein seltenes Ereignis. Ihnen fehlt daher die Handlungsroutine, um die eigene Bedrohungssituation zu bewältigen oder anderen effektiv und ohne Eigengefährdung helfen zu können. Das Ziel sollte also sein, Strategien zum deeskalierenden und gewaltfreien Verhalten in Konflikt- und Bedrohungssituationen zu lernen. Verstehst du? Man sollte die eigene Handlungskompetenz und das subjektive Sicherheitsgefühl verbessern.«
» Und wie kann das aussehen?«
» Erste Regel: Mische dich nie alleine ein, sondern bitte andere Menschen um Hilfe.«
» Die wegschauen und sich nicht drum kümmern.«
» Also gehe zu ihnen und fasse sie an.«
» Anfassen?«
» Wenn du einen Menschen berührst, geschieht das nicht nur körperlich, sondern es hat auch immer eine intime Komponente. Du durchbrichst den Sicherheitsabstand, dringst in seine Privatsphäre ein. Dadurch wird er aufmerksam auf dich, nimmt dich ernst und hilft.«
» Hofft man.«
» Handyfotos sind wichtig. Das hilft später bei der Tätersuche.«
» Und das Opfer?«
» Ich könnte jetzt einen langen Vortrag halten. Und glaube mir, es gibt viele unterschiedliche Meinungen. Ich habe jetzt keine Lust, mit dir diesen schönen Spaziergang zu machen und einen Präventionsvortrag zu halten.«
» Warum sprichst du so hart?«
» Weil ich an alle diese Präventionen nicht glaube, vielleicht abgesehen von den Dingen, die ich grad erklärte. Die mögen was helfen, aber sonst ...«
» Und was bleibt?«
» Das Wissen um den Dämon Mensch, und vielleicht die Möglichkeit der Rache.«
Lena blickte auf ihre Schuhe. Es roch nach Blättern, Wald und Wasser. Irgendwo lachten Menschen.
Sie sagte langsam und überlegt: »Wenn der Mensch sowieso ein Dämon ist, ist ihm nicht zu helfen.«
Max neben ihr war stumm wie ein Baum.
»Also bleibt nur die Rache,« sagte sie.
» Also bleibt nur das, was du träumst.«
» Werde ich es bis an mein Lebensende träumen?«
Max blieb stehen und zog sie an den Schultern herum. Ihre Gesichter waren sich ganz nahe. »Nein, das wirst du nicht, Lena.«
» Und wie kann ich das ändern?«
» Indem du dein Trauma brichst.«
» Was meinst du damit?«
Er strich ihr mit dem Handrücken über die Wange. »Wer eine Phobie hat, stellt sich ihr, und die Phobie verschwindet.«
» Also Taranteln streicheln, wenn man eine Spinnenphobie hat.«
» So etwas, ja.«
» Und was bedeutet das für meine Racheträume?« Sie wusste die Antwort, wusste sie ganz genau.
Er drückte seine heißen Lippen an ihr Ohr und flüsterte: »Du musst es tun, sonst wird es dich auffressen.«
Ja, sonst frisst es mich auf!
»Du wolltest sagen, was dich umtreibt, Max«, versuchte sie sich zu retten, das Thema zu wechseln, denn es gab keinen anderen Ausweg. Die Antworten waren zu klar, zu erschreckend, folgten einer inneren Logik, die sie nicht wollte.
Erneut gingen sie nebeneinander her. Schritt für Schritt.
»Ich will einen Beweis antreten.«
Er zögerte, doch sie ermunterte ihn durch ihr Schweigen.
»Ich will einen Menschen töten.«
Sie erschauderte, doch sie zeigte es ihm nicht.
»Ich will diese Person vor hundert anderen Menschen töten. Ganz dramatisch, theatralisch fast. Jeder wird die Möglichkeit haben, einzugreifen, viele werden fotografieren oder filmen, doch niemand wird etwas tun.«
Er sagte nichts mehr, als warte er auf eine Antwort, vielleicht eine Zurechtweisung, doch noch immer schwieg Lena.
»Man wird den Mord auf YouTube sehen, bis er gelöscht wird. Man wird darüber schreiben. Es wird Sondersendungen im Fernsehen geben. Ich werde beweisen, dass jeder Mensch ein Mörder sein kann und jeder ein stiller Zeuge, der nicht besser ist, weil ihn die Feigheit lähmt. Ich werde einen Menschen töten und mich damit an den vielen anderen Tätern rächen, denn sie werden nichts mehr wert sein. Niemand wird mehr über sie berichten, jeder nur über diesen einen spektakulären Fall sprechen. Ich werde damit ein ganzes Gesellschaftssystem umkrempeln. Es wird eine Wertediskussion geben, man wird Bücher darüber schreiben. Und wenn ein Mord nicht genügt, verübe ich zwei oder drei. Stets in der Öffentlichkeit, immer unter Zeugen. Am helllichten Tage. Und so inszeniert, dass jeder jederzeit eingreifen kann. Ich gebe den Menschen die Chance, zu zeigen, was sie wert sind. Ich werde die Menschen beschämen. Ihnen einen Spiegel vorhalten und
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