Mein Jahr als Mörder
Polizeimänner der Welt, die Grenzer und Zöllner der DDR. Selbst wenn sie mich strengstens mustern, Augenfarbe, Haarfarbe, die Form des linken Ohres und die im Pass eingetragene Größe kontrollieren, sie können, sie werden aus meinen Stirnfalten keine Mordpläne lesen. Das wollte ich testen, nebenbei, und den Sänger Biermann besuchen.
Das Kriechen durch die Mauer dauerte am Grenzübergang Friedrichstraße mindestens eine Stunde. Anstehen bei der Passabgabe für Bundesbürger, Ausfüllen der Zollformulare, Warten auf die Pass- und Gesichtskontrolle, Aushändigung des Besuchsvisums, Geldumtausch, Schlangestehen beim Zoll, Gepäck-, Taschen- und Geldkontrolle und hin und wieder als Zugabe eine Leibesvisitation mit ausführlicher Befragung woher, wohin, warum. Und alle Rituale begleitet von Willkür, Ernst und Mief. Hier lernte ich warten.
Während sie meinen Pass prüften, registrierten oder sonst etwas damit anstellten, musste ich still sein und mich ducken. Ich hatte keinen Sitzplatz, aber das Glück, mich an eine Wand lehnen zu können. Lesen ging nicht, es sei denn, ich hätte Goethe mitgebracht. Hölderlin war mir schon konfisziert worden. Es lagen Propagandaschriften aus, ich blätterte in einem Heft über das Gesundheitssystem der DDR, aber zwischen vierzig, sechzig wartenden Menschen in einem überheizten fensterlosen Raum stehend, mochte ich mich von den Vorzügen des ungeliebten Nachbarstaates nicht überzeugen lassen. Essen oder Trinken war ebenfalls verboten, einmal hatten sie mich angeschnauzt, weil ich es gewagt hatte, auf dem Grenzterritorium, wie sie sagten, in einen Apfel zu beißen. Wer versucht hätte zu fotografieren oder Notizen zu machen, wäre sofort als Spion abgeführt worden. Beschwerden über die lange Wartezeit oder die Willkür bei der Abfertigung wurden mit verlängerter Wartezeit bestraft. Erlaubt war nur das Sprechen, aber da sich alle in diesem Raum abgehört glaubten oder wirklich abgehört wurden, wollte niemand mit lauten Worten Verdacht auf sich lenken.
Es herrschte eine verdrückte Stille im Warteraum, in unregelmäßigen Abständen unterbrochen von den Befehlsstimmen unsichtbarer Grenzpolizisten, die Nummern aufriefen. Die Nummern waren wir. Alle schwitzten, es gab keine Möglichkeit, die Wintermäntel abzulegen. Jeder spürte den halbgiftigen Desinfektionsgeruch, der in den öffentlichen Gebäuden des merkwürdigen Landes alle anderen Gerüche übertrumpfte, die Duftmarke, die olfaktorische Erkennungsmelodie der DDR. Einreisen, das hieß Gehorsam üben, sich einer Prozedur der Demütigung unterziehen und trotzdem in jeder Sekunde bereit sein, den Zeremonienmeistern im Hintergrund Respekt und Dank zu zollen für die irgendwann gnädig gewährte Erlaubnis, den Fuß auf den fremden Kontinent der anderen Hälfte der Stadt setzen zu dürfen.
Das alles ertrug ich, weil ich Kontakt zu Groscurths bestem Freund suchte, zum Kronzeugen Havemann. Da gab es nur einen Weg, durch die Mauer, zu seinem Freund Biermann, den ich, das ist wieder eine andere Geschichte, ganz gut kannte.
An diesem öden Ort, dachte ich oft, bleibt dir nur eins, meditieren. Entspannen, tief einatmen, entspannen, woher, wohin, entspannen, Abstand fühlen, tief ausatmen, die Wünsche farbig durchs Hirn wehen lassen. Oder, wenn das nicht gut gelang, beobachten. Hier, wo niemals fotografiert oder gefilmt werden wird, wo kein Maler den Skizzenblock auspacken darf, da müssen die Autoren ran, da könntest du das Beschreiben üben. Zum Beispiel die Farben, die keine Farben sind, sondern trübe, kaum definierbare Mischungen aus Grau und hellem Braun. Oder die Schalter, die Schilder, die Parolen, die Gesichter unter Uniformmützen, die Grenztechnologie.
Noch spannender, meine Landsleute vor den Uniformen des anderen Deutschland zu beobachten. Die Sekunde der Erleichterung und Entspannung im Gesicht bei den Wartenden, deren Nummer endlich aufgerufen wurde: Sie hatten das Gewinnlos gezogen, durften die kleine Hölle des Warteraums verlassen und weiter gehen durch das Fegefeuer der Kontrollen und in einer Viertelstunde das graue Paradies betreten. Die Enttäuschung der anderen, die nach dem Aufruf der Nummern sich weiter zur Geduld zwingen mussten und die Sitzhaltung oder das Standbein wechselten.
Wir waren vorsortiert als Einreisende mit dem Pass der Bundesrepublik. Ausländer und Westberliner mussten sich vor anderen Schaltern drängen. Doch der gute Pass schützte nicht vor der diffusen Ängstlichkeit, die vom Geruch,
Weitere Kostenlose Bücher