Mein Leben Als Suchmaschine
schließlich noch Kulturnation. Hier gibt’s noch einfach Haue, und dann ist aber auch gut.
Habe Hunger. Aber mit diesen Zahnschmerzen wird sogar das Essen zur Qual. Vor einem Hotel hängt ein Werbetransparent. Sie bieten ein Langschläferfrühstück an. Bis 9. 30 Uhr. Sehr gut, ein wichtiger Hinweis. Bin also vermutlich irgendwo in Baden-Württemberg.
Sollte jetzt den Kiosk suchen und meinen Koffer holen. Sonst verpaß ich noch meinen Zug. Welchen Zug überhaupt? Wenn man bei einem Zug überhaupt nicht weiß, wann er eigentlich fährt, kann man ihn dann überhaupt verpassen? Ist das das Geheimnis des Glücks? Wenn man sich überhaupt gar keine Züge mehr raussucht, sondern immer nur auf gut Glück zum Bahnhof geht, dann ist man ja praktisch immer pünktlich. Oft sogar viel zu früh. Wer keine Ziele hat, kann auch nicht scheitern, sondern reist auf einer nie endenden Straße des Erfolgs.
Hm, in Amerika könnte ich mit so einer Erkenntnis als Wanderprediger wahrscheinlich Millionen verdienen. Also, sagen wir mal circa 10. Zusammen mit der Schmerzensgeldklage wären das mittlerweile schon rund 50 Millionen US-Dollar. Super, stehe hier nur so orientierungslos auf dem Bürgersteig und werde quasi immer reicher. Also, zumindest in Amerika.
50 Millionen US-Dollar. Nicht schlecht. Ich glaub, wenn ich so viel Geld hätte, würde sich mein Leben schon verändern. Mit so viel Geld müßte ich mir wahrscheinlich über gar nichts mehr Gedanken machen. Wenn ich so viel Geld hätte, würde ich wahrscheinlich nicht mal mehr selber essen. Würd ich jemanden für einstellen. Dann hätte der auch diese Zahnprobleme. Und dieses dämliche tendenzielle Übergewicht hätte der dann auch. Ich könnte mir einfach mit meinem durchtrainierten, gesunden Körper einen schönen Tag machen, und er müßte den ganzen Kram für mich essen und auch trinken. Würd ich einfach jemanden für einstellen. Als Minijob. Oder nee, doch lieber Vollzeit. Is ja doch ’ne ziemliche Menge, was ich so den Tag über esse und trinke. Lieber Vollzeit. Dann hätte er auch Kranken- und Pflegeversicherung dabei. Die braucht er ja später sicher mal bei diesem Job, aber hallo. Und ich werd dann hundert Jahre alt. Nur aus Daffke. Weil ich es mir eben leisten kann.
In Amerika ist das ja heute schon so. Das habe ich in einer Fernsehreportage gesehen. Die lief auf Arte, also war schon seriös. Diese ganzen Ghettokinder, hieß es dort, die sind ja alle total dick, während sich die Reichen in ihren Fitnessclubs mit Vitamincocktails vergnügen. Alles, was diesen Ghettokindern noch bleibt, ist die Musik. Also HipHop und Rap. Die mußten ja damals alle rappen lernen, weil sie einfach viel zu dick waren, als daß sie sich noch hätten eine Gitarre umhängen können.
Ein Mann kommt mit meinem Koffer angerannt. Es ist der Kiosk-Besitzer. Er freut sich, daß er mich endlich gefunden hat.
Denke: Jawoll, so ist nämlich Deutschland oder zumindest mal Baden-Württemberg. Der Kioskbesitzer behauptet: - Nein, nein, wir sind hier in Braunschweig. Ach. Und ich denke: Super, also, das freut mich jetzt aber wirklich, daß ich endlich auch mal was richtig Nettes über Braunschweig sagen kann. Das hat diese Stadt aber auch echt mal verdient.
Im Strudel der Sucht
Ich kaufe ungern dicke Zeitungen. Also diese extrem dicken Wochenendausgaben mit großem Immobilienteil oder Automarkt, die kauf ich ungern. Nicht weil ich was gegen Immobilien, Autos oder Märkte hätte. Es ist nur, weil ich so vergeßlich bin. Weil ich mir einfach nicht merken kann, an welchem Tag eigentlich unsere Altpapiertonne im Hof geleert wird. Andere können sich das merken, denn spätestens eine Stunde nach der Leerung ist die Tonne jedesmal schon wieder voll. Wie die das machen, weiß man nicht. Aber irgendwie können sie es.
Diese Problematik begleitet mich schon seit langer Zeit und hat vor einigen Jahren sogar zu einer der schlimmsten Krisen meines Lebens geführt.
Da ich seinerzeit nie einen Altpapiercontainer-leer-Moment erwischte, wuchs der Stapel in der Wohnung schnell an. Bald war er auf Hüfthöhe, dann Brust, dann Schulter. Ich machte das Beste daraus, nannte den Berg erst Archiv, später Bibliothek, dann modernes Antiquariat und kam mir sehr kultiviert dabei vor. Dann kam der Moment, wo ich beim Frühstück beobachtete, wie die Altpapiertonne im Hof geleert wurde. Meine Chance. Jetzt hieß es schnell sein. Doch als ich vor meinem modernen Antiquariat stand, befiel mich auf einmal ein anderer,
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