Mein Leben für dich
Sie sieht toll aus, ist erfolgreich und trotzdem total unglücklich. Sie wird nie das haben, was sie sich wünscht, und eigentlich kann man ihr nur raten, sich ein für alle Mal von Kai zu lösen, aber ich fühle mich nicht in der Position, ihr das zu sagen. Außerdem … Sie sollte selbst wissen, was für sie am besten ist. Genau wie ich.
Zum Glück setzt jetzt die Musik ein und mir wird weiterer unangenehmer Small Talk mit ihr erspart. Ich lausche den Klängen der Instrumente und versuche mich weit, weit wegzudenken, um nicht immerzu auf die Wanduhr zu blicken, auf der die Zeiger langsam, aber unerbittlich weiterrücken. Ich wünschte, das, was noch vor mir liegt, wäre schon vorbei, und gleichzeitig will ich nicht, dass der Zeitpunkt näher rückt, an dem ich dieses kleine, harmlos wirkende Paket aus meinem Zimmer holen muss.
Als nach Kais letzter Leseeinlage tosender Applaus einsetzt, ist es kurz vor halb sechs. Ich merke, wie mein Puls sich jetzt sekündlich beschleunigt. In einer Viertelstunde werde ich mich davonstehlen. Kein großes Ding, versuche ich mir immer wieder einzureden, es ist kein großes Ding, also mach auch keines draus. Schließlich musst du dieses Mal niemanden zusammenschlagen. Es ist eine saubere Sache, eine schnelle Übergabe. Kein Grund, sich ins Hemd zu machen.
Ich habe es zigmal durchgespielt, jeden einzelnen Schritt: Ich gehe hoch in mein Apartment, ziehe mein Sakko aus, sodass ich nur noch mein weißes Hemd trage, kremple die Ärmel hoch, lege die Uhr an, setze die Sonnenbrille auf, schnappe mir das Paket und marschiere los. Wenn alles nach Plan läuft, bin ich um Viertel nach sechs wieder zurück auf der Veranstaltung, kann Mia sagen, wie toll alles war, mich um etwas gute Laune bemühen und bei ihr bleiben, bis auch die letzten Besucher und Reporter abgezischt sind. Nachts fahre ich dann zu Rick und übergebe ihm das Geld. Ich will es keine Minute länger als nötig bei mir haben. Danach … Ich weiß es nicht. Ich möchte jetzt nicht darüber nachdenken, wie es weitergeht. Was noch alles auf mich zukommen, wie lange es dauern wird, bis meine Schulden komplett beglichen sind. Und ob ich danach überhaupt noch die Kraft habe, mich von Rick loszueisen, oder ob ich wirklich für immer eines seiner Gangmitglieder bleibe, so wie ich es mir früher oft gewünscht hatte. Wer weiß, vielleicht wäre das tatsächlich die beste Lösung für mich. Denn mal ganz ehrlich: In ein paar Monaten ist mein Job an Mias Seite höchstwahrscheinlich vorbei, und ich wüsste nicht, was ich anschließend anstellen könnte, um meine Kröten zu verdienen.
Ich fühle mich so zerrissen wie noch nie in meinem ganzen Leben und im Moment will ich nur eins: dass das bald ein Ende hat, egal, was ich dafür tun und welchen Weg ich einschlagen muss. Hauptsache, ich muss mich nicht mehr so fühlen, als teilten sich zwei Personen meinen Körper und stritten sich andauernd, wer der Stärkere ist. Das ist nämlich der reinste Horror, und der begann in dem Moment, als ich Falkensteins Angebot, für seine Tochter den Bodyguard zu spielen, annahm. Denn damit habe ich mich in eine Welt begeben, in der einer wie ich nichts zu suchen hat. Mein Platz ist woanders, und das darf ich niemals vergessen. Sonst werde ich eines Tages verdammt blöd aus der Wäsche schauen.
Der große Zeiger der Wanduhr rückt auf die Neun. Ich schlucke. In einer Viertelstunde werde ich an der Bushaltestelle erwartet. Gerade in diesem Moment ist auch die Zugabe der Musiker vorüber und alle erheben sich lärmend von ihren Stühlen. Der perfekte Moment also, um sich vom Acker zu machen. Mia wird alle Hände voll zu tun haben, Leute zu begrüßen und sich um die Kinder mit ihren gemalten Bildern zu kümmern. Sie wird mich nicht vermissen.
Mia
Ich kann immer noch nicht fassen, wie viele Leute gekommen sind. Gut gelaunt und miteinander plappernd werfen sie Scheine in die Schlitze der aufgestellten Kassetten und stecken Flyer mit der angegebenen Kontonummer der Stiftung in ihre Designerntaschen. Kai hat es echt drauf, die Leute zum Spenden zu motivieren, denke ich. Bestimmt werden wir einen Haufen einnehmen. Ich blicke mich nach Simon um, aber er hat seinen Platz verlassen. Ich habe ihn während des Konzerts eine ganze Weile beobachtet. Er sah konzentriert aus, so, als würde er sich komplett von der Musik vereinnahmen lassen. Ich hoffe, er bereut es nicht, so viel Geld gespendet zu haben. Ich muss ihm unbedingt erzählen, wie Kai reagiert hat, als ich
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