Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
ihrem Schicksal überlassen worden waren. Niemand besuchte oder ermutigte sie. Niemand schrieb ihnen lange Briefe mit den Neuigkeiten von zu Hause. Sie hatten niemanden, den sie anrufen konnten, wenn sie so traurig oder verängstigt waren, dass sie nicht mehr weiter wussten. Niemand schickte ihnen ein paar Dollar, damit sie den miesen Gefängnisfraß nicht essen mussten.
Sie sind die wahren lebenden Toten. Die Welt hat sich weitergedreht, und sie sind vergessen. Der Gedanke daran, dass ich so leicht einer von ihnen hätte werden können, erfüllt mein Herz mit Entsetzen. Ich habe ein unbeschreibliches Glück gehabt, weil ich ein paar Freunde hatte, die fast von Anfang an zu mir gestanden haben.
Morphogenetisches Feld. So nennt man es, wenn ein bestimmtes Energiemuster sich immer wieder wiederholt, bis es so etwas wie eine Aura hervorbringt. Dieses Gefängnis zum Beispiel. Hass, Ignoranz, Schmerz, Erniedrigung und Gier – alles, was jeder hier ständig hervorbringt, hat ein verdammt negatives morphogenetisches Feld geschaffen. Das Problem bei morphogenetischen Feldern ist, dass sie sich verhalten wie Magnete. Gleichartiges zieht sich an. Es zieht mehr von der gleichen Energie an sich, und es berührt jeden, der hier hereinkommt. Die Leute, die mich besuchen kommen, empfinden sofort Abscheu, Zorn und Widerwillen gegen die, mit denen sie es hier zu tun haben. Es erklärt auch, warum jede neue Wärterbesatzung, die hier anfängt, noch ein bisschen brutaler und ignoranter ist als die vorherige. Das morphogenetische Feld wird immer schlimmer, und es zieht Menschen an, die ihm Resonanz bieten.
Selbst die besten Pläne können im Bruchteil einer Sekunde schiefgehen. Dann kannst du nur geschockt dastehen und dich fragen, was da falsch gelaufen ist. Es ist eins der schlimmsten Gefühle, die man sich denken kann, hilflos zuzusehen, wie dir die Welt wie Sand zwischen den Fingern hindurchrieselt. Es ist, als rieselte dein Herz mit ihr davon.
Was mir passiert ist, war ein ungeheurer Bruch. Es war der machtvoll erbebende Ruck, mit dem etwas aus dem Gleis gerät. Ich sitze jetzt in dieser Zelle und nehme den Platz eines anderen ein. Ein Mörder sollte hier sitzen, nicht ich. Oft frage ich mich, ob dieser Fehler absichtlich begangen wurde von denen, die etwas zu verbergen haben. Dann wieder denke ich, vielleicht dient es einem großen und geheimen Zweck, den nur eine Macht kennt, die viel höher steht als ich. Aber ich glaube, die wichtigste Frage von allen ist: Was ist nötig, um alles wieder in Ordnung zu bringen? Was ist nötig, um mein Leben wieder ins richtige Gleis zu bringen, zu uhrwerkartiger Präzision? Ist es schon im Gange?
Ich komme aus einer Linie von Männern ohne Väter. Ich habe keine väterlichen Traditionen, die ich an meinen eigenen Nachwuchs weitergeben kann, und ich kann an einer Hand abzählen, wie oft ich meinen Sohn schon gesehen habe. Blut, heißt es, ist dicker als Wasser, aber ich habe zweiunddreißig Jahre alte Zweifel und keinen Widerspruch dagegen. Niemand war hier, um mir beizubringen, wie man eine Krawatte bindet, oder um zu erklären, wie Sex funktioniert. Ich musste es unterwegs lernen, wo immer ich Gelegenheit dazu hatte. Mein eigener Sohn kennt mich nicht einmal. Alles, was er hat, ist eine Handvoll der verstaubten Erinnerungen einer anderen Person, und die meisten davon sind nicht einmal zutreffend.
Lange Zeitabschnitte fliegen so lautlos vorbei, dass ein Jahr sich an dich heranschleicht, ohne dass du es merkst. Das Jahr kann sich so ölig glatt anfühlen wie der Stahl eines Gewehrlaufs. Dann wieder kommt der Stress herein und schwemmt alles andere hinaus. Er stiehlt dir den Schlaf und die Klarheit des Denkens, und das Bewusstsein wird zu einer geistigen Plage, die ihren Tribut von deinem Körper fordert. Alle weltlichen Sorgen präsentieren sich in dem Augenblick, in dem du es am wenigsten erwartest. Haarrisse schlängeln sich über deinen Schädel und münden in einem tiefen Pochen. Nie habe ich genug Zeit, Geduld, Geld oder Begeisterung. Der Druck ist unerbittlich, und ich drehe mich im Wind wie ein Laken an der Wäscheleine. Die ständig wechselnde Strategie zermürbt und macht mich müde. Der Kreislauf wiederholt sich endlos, und ich habe keine Ablenkung. Fragen von Leben und Tod sind nichts als nachträgliche Gedanken für die Zahnräder, die das Getriebe drehen. Ich habe immer das Gefühl, wenn ich nur eine einzige Chance bekäme, könnte ich einen Weg finden voranzukommen. Ich
Weitere Kostenlose Bücher