Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
Mutter. Sie stand mit geröteten Augen neben dem Auto. Als ich auf Armeslänge herangekommen war, schnappte mein Vater mich und drückte mich an sich, und dabei weinte er weiter. Es jagte mir eine Höllenangst ein, und ich wusste nicht, was ich tun sollte.
Meine Mutter gab mir eine saccharinsüße Erklärung dafür, dass mein Vater nicht mehr bei uns wohnen würde; er werde meine Schwester und mich aber weiterhin an den Wochenenden besuchen kommen. Das tat er auch eine Zeitlang. Er holte uns ab, und dann besuchten wir meine Tante oder meine Großeltern väterlicherseits. Aber damit war es bald zu Ende.
VIER
Es dauerte nicht lange, bis meine Mutter einen anderen kennenlernte. Ich dürfte damals im dritten Schuljahr gewesen sein. Sein Name war Jack Echols, und er war zwanzig Jahre älter als meine Mutter, auch wenn man das nicht vermutet hätte, wenn man sie so sah. Einseitige Ernährung mit fettigem, gebratenem Essen, Zigaretten, keine Bewegung und ein Leben in der Sackgasse – das alles hatte dem Aussehen meiner Mutter Jahre hinzugefügt, die sie mit ihren fünfundzwanzig oder so bei dieser Hochzeit noch gar nicht auf dem Buckel hatte. Ich habe in meinem ganzen Leben niemanden getroffen, der etwas Gutes über Jack zu sagen hatte. Er war ein abscheulicher Mistkerl, der mit zunehmendem Alter immer schlimmer wurde.
Nach der Trennung von meinem Vater hatte meine Mutter begonnen, in eine protestantische Kirche in der Nachbarschaft zu gehen. Hier lernte sie Jack kennen, der dort seit einer Ewigkeit am Gottesdienst teilnahm, oder doch mindestens seit Jesus, der Zimmermann, die Kirche mit seinen eigenen Händen erbaut hatte.
Wenn ich die Augen schließe, sehe ich immer noch vor mir, wie er mir zum ersten Mal aufgefallen ist. Die Messe war gerade zu Ende, und ich stürmte hinaus auf den Parkplatz, um mit den anderen kleinen Heiden eine kurze Runde Fangen zu spielen, als ich Jack aus der Tür kommen sah, den Arm um meine Mom gelegt. Ich war plötzlich so wachsam wie ein Hund, dessen Ohren sich bei einem unbekannten Geräusch steil aufrichten. Mein Interesse verflog gleich wieder, und ich spielte weiter. Aber ich grollte ihr, und ich erinnere mich noch genau, dass sie mich eines Tages weinen sah und fragte, was denn los sei.
Ich sagte ihr, ich wolle bei meinem Vater wohnen, und sie antwortete: » Tja, aber er will dich nicht. « Ich wusste, dass er nie etwas dergleichen gesagt hatte, aber es tat trotzdem weh. Sie ahnte nicht, wie tief eine solche Bemerkung mich verletzte. Sie habe meinem Vater bereits mitgeteilt, dass sie sich demnächst wiederverheiraten werde, und ich solle mich an den Gedanken gewöhnen. Als sie das sagte, fühlte ich mich jedenfalls so, als gebe es nirgends auf der Welt Trost für mich. Mir war innerlich kalt, und ich konnte mich nirgends hinwenden. Ihrem Gesicht sah ich an, dass es ihr Freude machte, mich darüber zu informieren. Dabei sah sie nicht glücklich oder schadenfroh aus, sondern wohl vor allem trotzig. Ich kam mir vor wie Jekyll und Hyde – halb wünschte ich mir immer noch, dass sie mich tröstete und mir sagte, alles werde gut werden, aber andererseits hätte ich ihr am liebsten Dinge gesagt, die sie ins Herz treffen und sie so verletzen würden, wie ich selbst verletzt war.
Zu Hause wanderte ich durch ein emotionales Ödland mit zerklüfteten Felsen, deren Spalten so tief waren, dass der Wind darin heulte. Leute kamen in mein Leben und verließen es wieder, aber das eigentlich Wichtige waren die Orte. Noch jetzt zupfen sie an meinem Ärmel und kreisen in meinem Kopf. Die alten Geschichten stimmen nicht: Nicht der Geist spukt im Haus, sondern das Haus im Geist. Ich fühle mich verloren hier draußen, und alles erinnert mich daran, dass ich nicht vollständig real bin. Am Ende ist immer das Zuhause unser Verhängnis.
Auf irgendeine Weise sind meine Tage so üppig und verschlungen geworden wie die Kudzu-Ranken, die daheim um das Haus meiner Großmutter wucherten. Es ist beinahe zu viel, und es droht mir das Herz zu brechen. Ich fühle mich überwältigt von Dingen, die ich nicht einmal in Worte fassen kann. Das Spiegelbild des überhängenden Laubs in den Pfützen auf dem Asphalt verfolgt mich. Ich will nach Hause. Nie habe ich mir etwas so inständig gewünscht. Geister benutzen meinen Kopf als Neon-Disco, und ich will nach Hause. Mein Herz ist ein Spukhaus, das ich nicht hinter mir lassen kann. Alles hier vibriert träger als Schlamm, und niemand hat eine Seele.
Die Zeit verdirbt
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