Mein mutiges Herz
den quälenden Stunden, die er ohne sie verbringen musste.
Lindsey, der ähnlich zumute war, versuchte, sich auf das bevorstehende Gespräch zu konzentrieren. „Denkst du, Beale wird kommen?“
„Du hast ihm Geld angeboten“, antwortete Thor. „Das wird er sich nicht entgehen lassen.“
„Wir wissen nicht einmal, wie er aussieht.“ Sie ließ den Blick unstet durch den schwach erleuchteten eichengetäfelten Raum schweifen. Das Lokal, in einer vornehmen Gegend gelegen, war nicht sonderlich gut besucht. Ein Hauch von Tabakrauch und erlesenem Brandy wies darauf hin, dass sich hier gerne soignierte Herren zu einem Plausch bei einer Zigarre und einem Glas Cognac trafen.
„Er kommt“, sagte Thor, den Blick auf einen hageren Mann gerichtet, der soeben die Eingangstür öffnete, deren obere Hälfte verglast war.
Lindsey neigte sich Thor zu, den Blick auf den Fremden geheftet. „Woher weißt du, dass er der Richtige ist?“
„Dieser Mann hat mich in Foxgrove angesprochen und mir geraten, Martha Barker aufzusuchen.“
„Das habe ich vermutet.“
Thor erhob sich, als der schwarzhaarige Mann sich näherte. Im flackernden Schein der Kerze, die auf dem Tisch stand, konnte Lindsey den silbergrauen Haaransatz an seinen Schläfen erkennen.
„Mr. Beale?“, fragte Thor.
Der Angesprochene blickte sich sichernd in der Taverne um. „Simon Beale.“ Mit schmalem Gesicht und langer Nase wirkte der vornehm blasse Herr nicht unsympathisch. „Ich glaube, wir kennen uns bereits.“
Thor zog die Mundwinkel hoch.
„Ja, so ist es.“
Nachdem Thor ihn Lindsey vorgestellt hatte, nahm Mr. Beale Platz. „Wie Sie uns geraten haben, haben wir Mrs. Barker aufgesucht“, begann Thor. „Es war eine interessante Unerhaltung.“
„Aha, dann beginnen Sie zu verstehen, welche Sorte Mensch Lord Merrick ist.“
„Nun, es scheint mir verfrüht, ein Urteil zu bilden.“
„Mag sein“, erwiderte Beale. „Ich bin allerdings davon überzeugt, dass Lord Merrick die Frauenmorde in Covent Garden begangen hat – und den Mord an Penelope Barker. Aber ich fürchte, mir fehlt jeder Beweis.“ An Lindsey gewandt fuhr er fort: „Ich hatte gehofft, wenn Sie meine Briefe lesen, werden Sie sich bemühen, Beweise zu sammeln, um den wahren Täter zu überführen. Zumal Ihr Bruder unter Verdacht steht.“
„Woher wissen Sie um die Anschuldigungen gegen meinen Bruder?“
Unruhig rutschte er auf seinem Stuhl hin und her und warf nervöse Blicke zur Tür. „In allen großen Häusern verbreiten sich Gerüchte unter der Dienerschaft wie ein Lauffeuer.“
Eine Kellnerin trat an den Tisch. Thor bestellte einen Krug Bier für Beale, den sie eilig brachte und Thor dabei kokett anlächelte. Lindsey verdrängte einen Stich der Eifersucht. Thor war ein umwerfend gut aussehender Mann; früher oder später würde er sich anderen Frauen zuwenden. Damit musste sie sich abfinden, aber der Gedanke tat unbeschreiblich weh.
„Wir haben Erkundigungen angestellt“, sagte Thor, „bislang aber nichts gefunden, das einen Verdacht auf Merrick lenken könnte.“
„Da Sie ihn für schuldig halten“, ergriff Lindsey das Wort, „müssten Sie wissen, ob er sich in den fraglichen Nächten in London aufgehalten hat. Und wenn ja, ob er in jenen Nächten ausgegangen ist.“
„Er geht häufig aus.“ Beale trank einen Schluck Bier. „An den fraglichen Abenden wollte er seinen Club aufsuchen. Ich half ihm wie immer beim Ankleiden.“
„Wir müssen wissen, wieso Sie den Viscount für einen Mörder halten“, ergänzte Lindsey. „Ihr Verdacht kann sich doch nicht ausschließlich auf Penelope Barkers Verschwinden gründen.“
„Ich stehe seit vielen Jahren in Lord Merricks Diensten, genauer gesagt seit seiner Jugend. Ich kenne seine Gewohnheiten und Neigungen besser als jeder andere. Ich weiß, dass er bis vor Kurzem übel beleumundete Häuser frequentierte. Wenn er von solchen nächtlichen Vergnügungen heimkehrte, wies seine Kleidung gelegentlich Blutspuren auf.“
Lindsey zog den Atem hörbar ein. Dies war keineswegs der Stephen Camden, den sie kannte.
„Fahren Sie fort!“, drängte Thor.
„Ich weiß, was er Penelope Barker angetan hat, nachdem sie ihm beichtete, dass sie ein Kind von ihm erwartete. Er peitschte sie mit der Reitgerte aus und hätte sie vielleicht getötet, wäre nicht zufällig ein Stallknecht aufgetaucht. Ich weiß, dass er unmoralische Frauen verabscheut, dass er Huren hasst und sich gleichzeitig zu ihnen hingezogen fühlt. Einmal
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