Mein Onkel Ferdinand
Tagen bedeutend häufiger gesehen hatte als ich selber.
»Er kam ohne Blümchen! Er kam mit einem Buch, das er mir zurückbrachte. Fontanes >Stechlin< übrigens...«
»Ein verdammt gefährlicher Beruf für ein alleinstehendes junges Mädchen!« stellte ich fest. »Hättest du ein Wäschegeschäft oder einen Hutladen, dann könnte man seine Einkäufe höchstens einmal Umtauschen. Doch mit Leihbüchern ist das ja ein ewiges Hin und Her! Aber gut, lassen wir das einmal aus der Betrachtung heraus.
Ich verstehe nur eines nicht: wie kam Murchison dazu, bei deiner Tante um dich anzuhalten? Das kann er doch nicht so ohne weiteres getan haben. Du mußt ihm doch irgendwann und irgendwie eine Veranlassung dazu gegeben haben, daß er sich einbilden konnte, er würde mit seiner Werbung bei dir auch Erfolg haben!«
»Nun höre einmal!« sagte Gertrud ziemlich gekränkt, »ich habe ihm mit keiner Silbe eine Chance gegeben. Oder meinst du etwa, daß er sich deshalb ermutigt fühlte, weil ich ihm heute im Verlaufe eines Gesprächs über die Vereinigung Europas sagte, wenn ich nicht Deutsche wäre, dann möchte ich weder Französin noch Italienerin, sondern höchstens noch Engländerin sein...«
»Das hast du ihm gesagt?«
»Es war doch ein ganz theoretisches Gespräch darüber, in welcher Nation man sich am meisten wohl fühlen würde.«
»Für einen Mann mit Heiratsabsichten gibt es keine theoretischen Gespräche mit der Dame, die er heiraten möchte!« Und ich fügte hinzu, das sei so sicher wie ein mathematisches Axiom, dessen Gültigkeit seit Anbeginn der Welt bestehe und bis an ihr Ende bestehen werde.
»Und was soll nun weiter geschehen?« fragte Gertrud mit einem Anflug der alten, kaum überwundenen Verzweiflung.
»Nichts ist einfacher als das!« erklärte ich ihr. »Nachdem wir uns nun verlobt haben, wird es dir hoffentlich nicht schwerfallen, Herrn Murchison von diesem freudigen Ereignis in Kenntnis zu setzen. Und damit dürfte der Fall doch wohl endgültig erledigt sein.«
»Ich will ihn nicht mehr sehen!« rief sie heftig.
Ich konnte diesen Wunsch nicht nur verstehen, sondern er war mir sogar aus dem Herzen gesprochen. Selbstverständlich hatte dieser Kerl auf Nimmerwiedersehen aus Gertruds Leben zu verschwinden! Es war mir — wenn ich mich dieses Ausdrucks unserer Vorväter bedienen darf — ärgerlich genug, daß dieser Bursche es überhaupt gewagt hatte, seine Augen zu der Frau, die ich liebte, zu erheben.
»Besitzest du eine Schreibmaschine?« fragte ich.
»Du willst ihm schreiben?« sagte sie, und ich merkte, daß ihr dieser naheliegende Gedanke gar nicht unangenehm war.
»Nicht nur ihm, sondern vor allem seinen Onkeln in London. Denn wahrscheinlich enträtseln wir nur auf diese Weise Mister Murchisons Geheimnis. Je länger ich nämlich darüber nachdenke, um so mehr komme ich zu der Überzeugung, daß er nur durch seinen Beruf zu deinem Namen und zu den Kenntnissen über dich gekommen ist, die er bereits hatte, bevor er hier aufkreuzte.«
»Das kommt mir aber sehr unwahrscheinlich vor«, sagte Gertrud nachdenklich, »aber eine Schreibmaschine besitze ich. Es ist zwar ein uraltes Modell, und für das I muß man das J nehmen, aber sie tut ihren Dienst.«
Vielleicht wären wir rascher aufgebrochen, wenn die Nacht nicht so mild und der Weidenvorhang nicht so dicht gewesen wäre. Aber diese beiden Gründe waren zwingend genug, um den Aufbruch noch eine kleine Stunde hinauszuzögern. Und ich kann auch mit ruhigem Gewissen versichern, daß in den Gesprächen dieser Stunde zwischen uns weder der Name Murchison noch irgendein anderes Wort fiel, das mit dieser rätselhaften Geschichte in Zusammenhang stand.
Erst auf dem Wege zur Kalendergasse kamen wir auf das alte Thema zurück. Die Uhr ging auf elf, als wir das kleine Zimmer hinter dem Laden betraten, in das ich mich seit meinem ersten Besuch bei Gertrud so oft zurückgewünscht hatte. Als Gertrud das Licht anknipste, ertönte an der Wand ein Klopfzeichen. Drei kurze Schläge. Ich hielt erschrocken den Atem an. Aber Gertrud blinzelte mir beruhigend zu und gab das Zeichen mit einer kleinen Variante des Klopftempos zurück — lang — kurz kurz...
»Es ist Tante Otti«, erklärte sie mir. »Sie hat immer Angst vor Einbrechern. Jetzt weiß sie, daß ich daheim bin. Und nun kann sie ruhig einschlafen. «
12
Gertrud spannte einen Bogen mit zwei Durchschlägen in die kleine Maschine mit dem fehlenden I und nickte mir zu, daß sie bereit sei, mein Diktat
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