Mein perfekter Sommer
mir. Ich kann nicht umhin zu bemerken, dass er bereits hemdlos dasteht, in Cargoshorts, ein Handtuch um die Schultern geschlungen.
»Hi«, sage ich vorsichtig. Sofort wird mir bewusst, wie wenig auch ich anhabe. Dieses Jahr bin ich endlich etwas weiblicher geworden, Stellen, die vorher nur Haut und Knochen waren, haben sich gerundet – und ich hab mich
immer noch nicht dran gewöhnt. Ich greife nach meinem Tanktop.
»Beachte mich gar nicht«, sage ich, sobald ich mich nicht mehr ganz so nackt fühle. »Das Wasser ist fantastisch.«
Nickend lässt er sein Handtuch neben mir fallen. Dann steigt er aus den Shorts, eine weite Badehose mit schwarzem Muster kommt darunter zum Vorschein, und macht sich ohne ein weiteres Wort zum Wasser auf.
Und damit ist mein entspannter Nachmittag dahin.
Er schwimmt eine Weile, schafft es bis rüber zu der kleinen Insel mitten auf dem See, während ich mit einem Mal unruhig herumrutsche. Wenn ich jetzt abhaue, ist ganz klar, dass es seinetwegen ist, aber ich kann auch nicht wieder wegdämmern. Schließlich gebe ich den Versuch ganz auf, mich zu sonnen, und lange nach meinem Notizbuch.
Die Liste mit den Green-Teen-Plänen für das neue Schuljahr ist zur Hälfte fertig, als ich Reeve aus dem Wasser kommen höre. Ich beachte ihn gar nicht, zwinge mich dazu, den Blick immer schön nach unten gerichtet zu halten, und das auch, als er wieder zu mir rüberkommt und sich sein Handtuch nimmt. Normalerweise bin ich nicht so scheu, aber diese Stillwater-Jungs bringen mich irgendwie aus dem Gleichgewicht, keine Ahnung, was die so denken.
»Woran arbeitest du da?« Reeve schaut auf mich herunter und tropft auf die Seiten.
»Nur ein paar Listen.« Ich klappe das Notizbuch energisch zu. »Sachen, die ich zu Hause erledigen will.«
Ich denk mir, dass er jetzt wohl gehen wird, wo er doch im Wasser gewesen ist, aber stattdessen legt er sich ein paar Meter weiter auf den Boden und schaut aufs Wasser. Unter der Sonnenbrille hervor beobachte ich ihn verstohlen. Sein Haar glänzt schwarz in der Sonne, es ist klitschnass, hinten an seiner Schulter fällt mir ein Muttermal auf, das aussieht wie eine hingeklekste Landkarte.
Lange Zeit herrscht Schweigen.
»Wie ist denn deine Klettertour gelaufen?«, frage ich ihn irgendwann, als ich mich entschlossen habe, freundlich zu sein. Fragend guckt er zu mir rüber. »Mit Ethan? Du hattest davon geredet, dass du klettern gehen wolltest. Letzte Woche.«
»Ach so, stimmt.« Langsam nickt er. »War echt cool.«
Noch mehr Schweigen.
Ich wälze mich auf den Bauch und fange an mit den Kieseln zu spielen, die auf dem spärlichen Gras herumliegen. Allmählich fallen mir die Unterschiede zwischen den Jungs auf. Grady ist schroff und immer ruhelos, er wäre inzwischen entweder längst weg oder noch immer im Wasser. Reeve sitzt beinahe völlig still da, aber anstelle der Gelassenheit, die Ethan ausstrahlt – den es überhaupt nicht zu kratzen scheint, was um ihn herum vorgeht – wirkt Reeve so, als würde er seine ganze Energie zurückhalten.
Keine Ahnung, worauf er wartet. Vielleicht hängt er hier nur aus Höflichkeit rum, so wie ich, aber dieses Mal zieht sich das Schweigen noch länger hin und ich bin schon in Versuchung, wieder in den eiskalten See zu rennen, nur um
wegzukommen von dieser Hilflosigkeit. Stattdessen wühle ich in meiner Tasche nach einem Müsliriegel und stoße dabei auf dieses Naturhandbuch, an das ich zufällig gekommen bin. Das Überlebenshandbuch für den modernen Bergbewohner . Die Seiten sind alt und stellenweise vergilbt, irgendein Kaffeebecher hat dunkle Ringe hinterlassen, aber ich blättere das Buch neugierig durch. Es liest sich wie ein ganz normaler Ratgeber, liefert Tipps zum Bau einer Schutzhütte, zum Fährtenlesen und allerlei anderen Dingen, die ich hoffentlich niemals ausprobieren muss, aber der schrullige Stil zieht mich in seinen Bann. Jeremiah B. Coombes steht auf dem Rückentext unter einem weiteren Foto von ihm – dieses Mal mit gezücktem Jagdmesser. Ich kann ihn vor mir sehen, so wie er jetzt ist, alt und übellaunig wird er mit seinem Stock auf die nächstgelegene Fläche hauen, während er seinen bemitleidenswerten Enkelkindern einen Vortrag über die Wichtigkeit einer guten Axt hält.
Ich blättere um.
Vom Heim sämtlicher Kreaturen hat man sich fern zu halten. Ob es sich nun um eine Höhle, ein Nest oder ein schlichtes Loch in der Erde handelt, dieser Ort bedeutet einem Tier alles und es wird
Weitere Kostenlose Bücher