Mein schwacher Wille geschehe
Seite zu schlafen, konnte sich aber in seinem gegenwärtigen Zustand nicht in diese Lage bringen. Mit welcher Kraft er sich auch auf die rechte Seite warf, immer wieder schaukelte er in die Rückenlage zurück. Er versuchte es wohl hundertmal, schloss die Augen, um die zappelnden Beine nicht sehen zu müssen, und ließ erst ab, als er in der Seite einen noch nie gefühlten, leichten, dumpfen Schmerz zu fühlen begann.«
Während im Lied der Tana Schanzara »Vatters« Motive für das Liegenbleiben unklar bleiben, gibt Loriots Figur kaum zu erkennen, warum er »bloß sitzen« möchte. Sein Triumph hätte womöglich schon darin bestanden, sich den zahlreichen Beschäftigungsangeboten widersetzt zu haben. Gregor Samsa hingegen erfährt das Liegenbleiben gleichzeitig als Qual wie als Aufschub von noch Schlimmerem. Es plagen ihn Schuldgefühle und die Hoffnung auf Entlastung. So scheint er im ersten Moment beinahe erleichtert auf die Verwandlung zu reagieren. Er bleibt liegen, weil nichts da draußen ihn zu locken vermag, das Gewohnte wieder in Angriff zu nehmen. Gründe einfach liegen zu bleiben, gibt es immer genug. Wer liegen bleibt, tut es nicht aufgrund irgendwelcher egoistischen Freuden, sondern als Reaktion auf die Welt. Die anderen sind immer schon mit von der Partie. Nach dem Aufwachen erlebt man die Schwere des Körpers als Gleichnis des eigenen Lebens. »Ach Gott, dachte er, was für einen anstrengenden Beruf habe ich gewählt! Tagaus, tagein auf der Reise. Die geschäftlichen Aufregungen sind viel größer als im eigentlichen Geschäft zu Hause, und außerdem ist mir noch diese Plage des Reisens auferlegt, die Sorge um die Zuganschlüsse, das unregelmäßige, schlechte Essen, ein immer wechselnder, nie andauernder, |71| nie herzlich werdender menschlicher Verkehr. Der Teufel soll das alles holen!«
Das Nichtstun des einen kann den anderen rasend machen. In Kafkas »Verwandlung« kommt der Prokurist von Gregors Firma und sucht das Ausbleiben seines Mitarbeiters zu ergründen. Kontrolle, so eine anthropologische Erfahrung, findet statt, auch wenn man sie nicht sieht und spürt. Im Liegenbleiben gibt man sich nicht zuletzt der Illusion hin, sich ihr wie das Kind, das beim Versteckspiel die Hand vors Gesicht hält, entziehen zu können. Ist es zunächst Gregors Schwester, die die kommunikative Beziehung aufrecht zu erhalten versucht, so wendet sie sich später entschieden ab. Sie erlebt die sukzessiv sich vollziehende Verwandlung plötzlich als radikale Zäsur. War es nicht von Anfang an ein Fehler, auf eine Wiederherstellung der Normalität zu hoffen? In Kafkas Erzählung prallen das Bedürfnis nach verlässlicher Kontinuität und der jederzeit mögliche Eintritt der Katastrophe aufeinander. Die Moderne kann mit der Hoffnung auf verlässliche Verhältnisse, denen sich derjenige anverwandelt, der liegen bleibt, nicht dienen.
In einem Essay zur Bundestagswahl 2005 hat der Münchner Soziologe Ulrich Beck Kafkas Erzählung denn auch als eine Art Lesegerät für das Verhalten der Bürger in Zeiten der Globalisierung benutzt. 8 Die Verwandlung deutet Beck als allgemeine Reformstarre. Der schwindende Einfluss des Nationalstaats und ein ubiquitäres Wirtschaftsdenken lähmen die Einzelnen in der Multioptionsgesellschaft. Der Impuls, liegen zu bleiben, begleitet das Subjekt auch nach dem Aufstehen durch den Tag. Man ist es einfach leid, ständig über den Wechsel des Stromanbieters nachdenken und die Telefontarife im Kopf haben zu müssen. Am Ende ist es Gregors Schwester, die sich radikal modernisierungsoffen gibt und nach dem langsamen wie unvermeidlichen Tod Gregors wieder so etwas wie eigene Körperspannung verspürt. Kafkas Erzählung ist so häufig und unterschiedlich interpretiert worden, dass |72| sie es gewiss aushält, hier im Zeichen einer Vita Passiva und die Reaktionen, die es hervorruft, gelesen zu werden. Es kann nicht folgenlos bleiben, sich treiben zu lassen.
In einem weit harmloseren Sinne demonstrieren auch Loriots Figuren, wie sehr die Entfaltung von Idiosynkrasien meistens des anderen bedarf. Paare wissen zahlreiche Lieder davon zu singen. Nicht selten besteht der Kern einer dauerhaften Bindung in wechselseitiger Rücksichtnahme oder Antizipation des jeweiligen Tun und Lassens. Das Beseitigen des Mülls, das Ablesen des Stroms, das Ausräumen der Spülmaschine, das Zurückschlagen des Bettzeugs, das Waschen des Autos etc. kann in ein kompliziertes, ein die Paarbeziehung konstituierendes Spiel
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