Mein skandaloeser Viscount
Obgleich ich Ihnen gerne sagen würde, was aus mir geworden ist und wozu ich mich verpflichtet habe, kann und werde ich es nicht tun, in der Befürchtung, von Ihnen verurteilt und gehasst zu werden. Lieber sterbe ich, Victoria, als von Ihnen verabscheut zu werden. Aufgrund jüngster Vorfälle, auf die ich keinerlei Einfluss hatte, kann es keine Verbindung mehr zwischen uns geben. Sprechen Sie nicht einmal mehr meinen Namen aus. Wenn Sie sich meinem dringenden Ersuchen widersetzen, sehe ich mich gezwungen, jeden Brief von Ihnen ungelesen zu verbrennen und nicht zu beantworten. Glauben Sie mir bitte, dass ich dies nur tue, weil ich Sie liebe und nur so handle, um Sie und Ihren guten Ruf zu schützen. Leben Sie wohl und ohne Bedauern, und denken Sie daran, dass Sie von mir immer geliebt werden. Immer.
Stets der Ihre,
Remington
26. September 1825
Remington,
Grayson weigert sich noch immer vehement, mir Auskunft über Ihren Verbleib zu geben und will mir nicht sagen, was aus Ihnen geworden ist. Er beharrt darauf, Ihnen Geheimhaltung geschworen zu haben. Ich bin in tiefster Sorge und begreife nicht, wieso Sie mich so grausam im Stich lassen. Die Saison ist zu Ende, die mir keinerlei Trost bringen konnte, und ich starre in Bücher, die mir nichts sagen. Nachts weine ich mir die Augen darüber aus, wieder einen geliebten Menschen zu Grabe getragen zu haben. Warum verdammen Sie mich zu einem Leben ohne Sie? Warum lassen Sie mich im Ungewissen, was aus Ihnen geworden ist? Bedeutet Ihnen Ihr Stolz so viel mehr als ich Ihnen bedeute? Ich habe doch nur den Wunsch, Sie zu verstehen, nicht Sie zu verurteilen. Tief in meinem Herzen ahnte ich, dass es so kommen würde. Ich wusste in dem Moment, als ich dieser törichten Leidenschaft für Sie erlag, dass Sie mich enttäuschen und mir das Herz aus dem Leib reißen würden. Ich war lediglich der Meinung, ich sei nach all den Verlusten, die ich erleiden musste, besser gerüstet für den Schmerz, den Sie mir zufügen. Aber ich habe mich geirrt. Mein Kummer übersteigt alles, was ich je für möglich gehalten habe. Tun Sie mir wenigstens den Gefallen und schreiben mir ein paar Zeilen, nur um mich wissen zu lassen, dass Ihnen kein Unglück zugestoßen ist. Ich stehe große Ängste um Sie aus und fürchte um Ihr Leben.
In ewiger Treue, verbleibe ich immer die Ihre,
Victoria
Weder auf diesen noch auf die zweiundfünfzig weiteren Briefe, die Victoria in den nächsten zwei Jahren schrieb, erhielt sie Antwort von Remington. Und mit jedem unbeantworteten Brief verwelkte ihre Liebe ein wenig mehr, zu der sie sich einst zu bekennen gewagt hatte. Allmählich schwand auch ihre bittere Enttäuschung – bis sie irgendwann überzeugt davon war, dass diese Liebe nie existiert hatte.
SKANDAL 3
Du sollst Vater und Mutter ehren. Eine Dame, die ihre Eltern ehrt, erweist sich damit selbst Ehre.
Wie vermeidet man einen Skandal, Autor unbekannt
4. April 1829
London, England
E in gequältes Stöhnen riss Victoria aus bleiernem Schlaf. Flint sprang von ihrem Schoß und trippelte winselnd zum Bett ihres Vaters. Victoria erhob sich mühsam aus dem Polstersessel, eilte im schwachen Schein der heruntergebrannten Kerzen ans Krankenbett und beugte sich über ihren Vater, dessen Gesicht mit Verbänden umwickelt war.
Auch Arme und Hände waren mit Narzissenwasser getränkten Leinenstreifen verbunden, um die eitrigen Geschwüre zu heilen. „Maladie française“ hatten die Ärzte mit düsteren Mienen die Diagnose gestellt, da der Earl darauf bestanden hatte, seine Tochter müsse endlich die Wahrheit über sein Leiden erfahren: Syphilis. Dieses schmachvolle Geheimnis hatte er viele Jahre für sich behalten, nachdem er sich in einem verrufenen Etablissement mit dieser unheilbaren Krankheit angesteckt hatte.
Weder Arsen und Quecksilber noch Rindenabsud des Guajakbaumes, auch keine Tinkturen und Puder, die dubiose Quacksalber ihm aufgeschwatzt hatten, konnten ihm noch helfen. Victoria blieb nichts anderes mehr zu tun, als an seinem Krankenbett zu wachen und zu versuchen, seine Schmerzen zu lindern, bis sein ausgezehrter Körper den Kampf gegen das Unvermeidliche aufgeben musste.
Die schrundige Hand des Earls griff nach der ihren, er wandte ihr sein bandagiertes Gesicht zu. „Wo ist er?“
„Wer?“, flüsterte Victoria.
Er blinzelte verstört unter dem Verband, der nur Augen, Nase und Mund freiließ, zu ihr auf. „Victor. Wo ist er? Ich muss mit ihm sprechen. Bring ihn zu mir, damit ich ihm sagen
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