Mein skandaloeser Viscount
behauptet, mein Essen stinkt.“
Victoria bedachte ihren Cousin mit einem strengen Blick, um ihn zu warnen, ihren Vater nicht zu provozieren. „Es geht hier nicht um dich, Grayson, oder darum, was dir schmeckt. Es geht um Papas Gesundheit und sein Wohlbefinden.“
Grayson bekam schmale Lippen. „Er hat sich seit meinem letzten Besuch verändert. Er hat Wahnvorstellungen. Das ist kein gutes Zeichen.“
Victoria hob das Kinn, weigerte sich, ihm oder sich einzugestehen, dass die Verfassung ihres Vaters sich stetig verschlimmerte.
„Wahnvorstellungen?“ Der Earl rückte seinen Stuhl näher an die Tafel und funkelte Grayson wütend an. „Ich muss schon sehr bitten! Ich habe keine Wahnvorstellungen. Und ich erinnere mich noch an sehr viel. Besonders was dich betrifft, Grayson. Du bist doch vor zwei Tagen aus Venedig zurückgekommen, habe ich recht?“
„Nein. Das war vor vier Monaten, Onkel.“
„Aha. Aber ich erinnere mich, dass du dort warst. Ja. Und wenn ich wieder gesund bin, besteigen wir beide ein Schiff und besuchen diese Lackaffen. Dort lebt nämlich jemand, dem ich schon lange einen Besuch abstatten will.“ Der Earl nickte heftig. Dann wurde er nachdenklich. „Aber ich weiß seinen Namen nicht mehr. Wie heißt er, Grayson? Ich glaube, du kennst ihn. War er nicht dein Freund? Ein guter Freund?“
Grayson blickte auf seinen Teller und stocherte lustlos in seinem Essen herum.
Victoria holte stockend Atem. Selbst nach fast fünf Jahren wurde Grayson noch von Schuldgefühlen geplagt, und das zu Recht. Denn sie wusste sehr wohl, wen er all die Jahre in Venedig besucht hatte, wobei er niemals den Mut aufgebracht hatte, es ihr zu sagen.
Der Earl wandte sich mit zusammengekniffenen Augen an sie und klopfte mit seiner bandagierten Hand auf das Tischtuch.
„Meine liebste Camille, vielleicht kannst du uns ja nach Venedig begleiten.“
Grayson hörte auf, in seinem Pfauenfleisch herumzustochern, legte das Silberbesteck klirrend ab, stützte die Hände flach auf die Tafel und erhob sich bedächtig. „Onkel, sie heißt nicht Camille . Sie ist deine Tochter Victoria .“
„Grayson!“, entfuhr es Victoria scharf.
„Du kannst ihm doch die Realität nicht verschweigen. Das ist unrecht.“ Grayson richtete den Blick wieder auf den Earl und sagte leise: „Onkel, du erinnerst dich doch gewiss an deine Tochter. Wieso erinnerst du dich an mich, an Venedig und an meinen Freund, aber nicht an deine Tochter?“
Victoria sprang empört auf und warf die Serviette auf den Tisch. „Wie kannst du es wagen? Begreifst du nicht, dass er Angst bekommt, wenn sein Verstand infrage gestellt wird? Ich habe die ganze Woche damit zu tun. Die ganze Woche! “
Verzweifelt rang sie um Fassung und darum, nicht in Tränen auszubrechen. Es war unerträglich, ihren Vater in diesem Zustand zu sehen; er war tatsächlich nicht mehr zurechnungsfähig.
Grayson ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen und sah sie ernst an. Dann räusperte er sich und wandte sich mit versöhnlicher Stimme an ihren Vater: „Verzeih, Onkel. Ich fürchte, vor dem Dinner ein Glas Sherry zu viel getrunken zu haben. Wir wollen essen. Wie ich höre, soll Pfauenfleisch ausgezeichnet für die Gesundheit sein.“
Auch Victoria beruhigte sich wieder und nahm gleichfalls Platz. Ihr Cousin hatte letztlich doch ein gutes Herz.
Grayson spießte ein Stück helles Fleisch auf die Gabel, führte sie zum Mund, kaute auf dem Bissen herum und verzog angewidert das Gesicht. Dann spuckte er aus und starrte Victoria finster an. „Pfui Teufel! Hast du davon probiert? Das schmeckt wie verbrannte Pisse.“
Ihre Familie hatte flegelhafte Manieren wie eine Horde Barbaren. Wie sollte sie als einzige Frau im Haus diesem Verfall guter Sitten Einhalt gebieten? „Zugegeben, Pfauenfleisch ist nicht sonderlich schmackhaft, Grayson. Aber ich halte mich an die Anweisungen der Ärzte, die mir versicherten, der Genuss von Pfauenfleisch kann Papas Leben verlängern.“ Victoria sah ihren Vater an, der seine Serviette noch nicht einmal entfaltet hatte, streckte einen Arm aus und tätschelte seine Hand. „Bitte, du musst essen. Tu mir den Gefallen!“
Am anderen Ende der Tafel schnaubte Grayson gereizt. „Nun, Camille . Kannst du mir, ungeachtet dieser Absonderlichkeiten, zusichern, dass du die Absicht hast, deine Bewerber zu empfangen, um deine Wahl zu treffen? Mein Vater ist in großer Sorge, ob du gewillt bist, deinen Verpflichtungen nachzukommen. Wie du sehr wohl weißt, hängt deine
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