Mein skandaloeser Viscount
des Pistolenlaufs an seiner Schläfe zu spüren. „Er drohte, falls ich vor Ablauf meines Vertrages die Absicht hätte zu fliehen, würden Cornelia und meine Stiefmutter sich auf dem Grund der Adria wiederfinden. Zu diesem Zeitpunkt brach ich jeglichen Kontakt mit Ihnen ab aus Angst, er könne etwas über meine Beziehung zu Ihnen erfahren und Sie gleichfalls als Druckmittel gegen mich einsetzen. Also blieb ich. Was zählten meine Ehre und mein Stolz im Vergleich zum gewaltsamen Tod der Menschen, die ich liebte? Ich hatte keine finanziellen Mittel, um meine Familie zu beschützen oder sie außer Landes in Sicherheit zu bringen und ich …“
Victoria legte ihm ihre freie Hand an den Mund und hinderte ihn daran, den Satz zu vollenden.
Jonathan blickte sie an.
Ihre grünen Augen schwammen in Tränen.
Er war wie gebannt, konnte nicht glauben, dass es ihm offenbar gelungen war, ihre Mauer der Abwehr einzureißen. Und wieder keimte Hoffnung in ihm auf, dass irgendwo unter dem bröckelnden Gestein die Seele seiner Victoria verschüttet war, die er einst geliebt hatte; ihre Seele, die nur darauf wartete, erlöst zu werden. So wie er auf Erlösung hoffte.
Sie schniefte gegen die Tränen an, die ihr über die Wangen liefen, nahm ihre zitternden Finger von seinen Lippen und drückte seine Hand. „Stehen Sie auf. Das alles ist nicht mehr nötig. Stehen Sie auf. Ich vergebe Ihnen.“
Jonathan atmete heftig ein. Sie … vergab ihm? Jetzt schon? Obgleich er sich seine eigene Torheit noch längst nicht vergeben hatte, seine Familie der Willkür einer mörderischen Bestie ausgeliefert zu haben?
Ergriffen umfasste er ihre Arme und zog sie auf den Marmorboden vor sich auf die Knie, bis ihre weiten Röcke sich an seinen Schenkeln bauschten und die Fliesen bedeckten. Ihm fehlte einfach die Kraft, sich zu erheben. „Sie wollen mir verzeihen?“, fragte er mit erstickter Stimme und suchte ihren Blick.
Victoria nickte seufzend, vermied es indes, ihn anzusehen. „Seit wir uns zum letzten Mal begegneten, habe ich viel gelernt. Ich habe gelernt, dass wir uns manchmal von uns selbst abwenden müssen, auch von dem, was wir für richtig halten, um zu überleben. Sie haben gelernt zu überleben, so gut Sie es vermochten, und ich habe gelernt zu überleben, so gut ich es vermochte. Kopf hoch, Remington! Ich verurteile Sie nicht für das, was Sie getan haben und was Ihnen widerfahren ist.“
Jonathan versuchte, gegen den Knoten, der ihm die Kehle zuschnürte, anzuschlucken. Vergeblich. Ihm war, als würde sich eine bleischwere Last von seiner Seele heben. Eine Last, die er in all den Jahren nicht abzuschütteln vermocht hatte.
Und dann strömte wieder Kraft in ihn. Er legte einen Arm um ihre Mitte, stand mit ihr auf und zog sie eng an sich. Diesen Moment wollte er für immer in Erinnerung behalten. Und er schwor sich bei dem letzten Rest, der ihm an Ehre noch geblieben war, dass nichts je wieder zwischen Victoria und ihn kommen sollte. Nichts und niemand.
Victoria reckte energisch das Kinn. Die blonden Löckchen an ihren Wangen wippten. „Dadurch ändert sich nichts zwischen uns. Sie müssen akzeptieren, dass ich nichts mehr für Sie empfinde.“
Ernüchterung machte sich in ihm breit, gleichzeitig begann er, ihre Beweggründe besser zu verstehen. Er festigte seinen Griff um ihre schmale Mitte. „Sie irren, wenn Sie glauben, nichts mehr für mich zu empfinden. Sie sind bereit, mir zu verzeihen, und diese Haltung beweist eine Stärke, zu der nur wenige Menschen fähig sind.“
Jemand hüstelte. Zweimal.
Jonathan blickte auf, schlang die Arme inniger um sie und presste ihre Rundungen an sich. Victoria versuchte, sich aus seiner Umarmung zu befreien, worauf er sie nur noch fester an sich drückte, bis sich ihren Lippen ein Laut des Unmuts entrang.
Grayson trat von einem Fuß auf den anderen, zupfte an den Ärmeln seines Gehrocks und warf bedeutsame Blicke zu Lord Moreland, Mr Parker und Sir Thorbert hinüber, die verlegen im Korridor warteten.
Jonathan hatte keine Ahnung, wie lange die Herren ihn und Victoria schon beobachtet hatten. Widerstrebend löste er sich von seiner Angebeteten und trat zwei Schritte zurück.
Lord Moreland verschränkte die Hände im Rücken. „Gute Nacht.“ Er verneigte sich mit einem verbindlichen Lächeln in die Runde und ging zur Treppe.
Victoria berührte Jonathans Arm. „Er zog seinen Antrag zurück. Ihnen zuliebe.“
Verwundert sah Jonathan sie an. Deshalb also hatte sie ihn erwählt. Nicht,
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