Mein Sommer nebenan (German Edition)
ja, Baby, hör bitte nicht auf«, ahme ich ihn nach und zwar so laut, dass sie mich hören können.
»Verzieh dich!«, knurrt Tracy.
Es ist Flut und so drückend heiß, dass die Luft noch salziger ist als sonst und den sumpfigen Geruch des Flusses fast vollständig überlagert. Die zwei Seiten unserer Stadt. Ich liebe sie beide. Ich finde es toll, dass man einfach nur die Augen zumachen und tief einatmen muss, um die Jahres- oder Tageszeit zu bestimmen. Auch jetzt schließe ich kurz die Augen und atme die schwül-warme Luft ein, als ich plötzlich ein erschrockenes Kreischen höre und gerade noch rechtzeitig die Augen aufreiße, um einer Frau mit einer pinken Schirmmütze und Söckchen in den Sandalen auszuweichen. Stony Bay liegt auf einer kleinen Halbinsel an der Mündung des Connecticut River. Wir haben einen großen Hafen, der unsere Stadt bei Touristen besonders beliebt macht. Im Sommer sind dreimal so viele Menschen hier unterwegs wie außerhalb der Saison. Ich hätte es also besser wissen und nicht mit geschlossenen Augen Rad fahren dürfen.
Nan öffnet auf mein Klopfen, das Telefon zwischen Ohr und Schulter geklemmt. Sie lächelt, legt kurz den Zeigefinger an die Lippen und deutet mit dem Kinn Richtung Wohnzimmer. »Sie sind definitiv meine erste Wahl«, sagt sie in den Hörer, »und deswegen wäre es wirklich toll, wenn ich meine Bewerbungsunterlagen jetzt schon einreichen könnte.«
Es ist jedes Mal ein Erlebnis, wenn ich durch die Tür der Masons trete. Überall stehen kitschige Keramikfigürchen herum, an den Wänden hängen Tafeln mit irischen Segenssprüchen und auf den Armlehnen sämtlicher Sessel und Sofas liegen Zierdeckchen, genau wie auf den Tischen und sogar auf dem Fernseher. Im Badezimmer bietet sich einem ein ganz ähnliches Bild – das Toilettenpapier ist unter einem gehäkelten pinken Reifrock einer starräugigen Puppe versteckt.
In den Bücherregalen stehen keine Bücher, sondern weiterer Nippes und Fotos von Nan und Tim, als sie noch jünger waren, meistens im Zwillings-Partnerlook. Ich sehe sie mir zum millionsten Mal an, während Nan ihre Adresse buchstabiert. Nan und Tim als Babys mit Weihnachtsmannmützen. Als Kleinkinder mit zerzausten Fusselhaaren und großen Kulleraugen im Osterhasenkostüm. Im Kindergartenalter in Dirndl und Lederhosen. Die Aufnahmen enden ungefähr kurz bevor sie acht wurden. Wenn ich mich richtig erinnere, waren sie in dem Jahr zu Ehren des Unabhängigkeitstags am 4. Juli als Uncle Sam und Betsy Ross verkleidet, und Tim hat den Fotografen ins Bein gebissen.
Auf den Kinderfotos sehen sie sich viel ähnlicher als heute. Beide sind rothaarig und haben Sommersprossen, aber –das Leben ist unfair –, Nan hat mittlerweile rotblonde Haare und hellblonde Wimpern und ist mit Sommersprossen übersät, während Tim nur ein paar Sommersprossen auf der Nase hat. Seine Brauen und Wimpern sind dunkel und seine Haare kastanienbraun mit kupferrotem Schimmer. Er wäre ein echter Beau, wenn er nicht ständig neben der Spur wäre.
»Ich stecke in der Warteschleife der Columbia – sie schicken mir die Bewerbungsunterlagen!«, raunt Nan mir zu. »Gut, dass du vorbeigekommen bist. Ich weiß gerade nicht mehr, wo mir der Kopf steht.«
»Ich hab schon ein paarmal versucht, dich auf deinem Handy zu erreichen, aber immer Tim drangehabt.«
»Er hat es also? Und ich suche schon die ganze Zeit danach. Wahrscheinlich hat er mal wieder sein Kontingent vertelefoniert und bedient sich jetzt bei mir. Na warte, der kann was erleben.«
»Hättest du nicht einfach auf die Seite der Columbia gehen und die Bewerbung online anfordern können?«, flüstere ich, obwohl ich die Antwort bereits kenne. Nan ist, was Computer angeht, ein hoffnungsloser Fall. Sie lässt immer alle Fenster gleichzeitig offen und vergisst jedes Mal, sie wieder zu schließen, wenn sie sie nicht mehr braucht, sodass ihr Laptop regelmäßig abstürzt.
»Ging nicht. Mein Laptop ist mal wieder bei Macho-Mitch in Behandlung«, flüstert sie zurück. Mitch ist ein unglaublich gut aussehender, wenn auch etwas finster dreinblickender Computer-Doktor, der bei Nan sogar Hausbesuche macht. Nan findet, dass er wie ihr Lieblingsschauspieler Steve McQueen aussieht. Ich finde einfach nur, dass er schlecht gelaunt aussieht, was wahrscheinlich daran liegt, dass er sich immer wieder mit dem gleichen Problem herumschlagen muss.
»Ja – vielen Dank. Und wann schicken Sie sie raus?«, fragt Nan genau in dem Moment ins Telefon, in dem
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