Mein Sommer nebenan (German Edition)
der Tür und blinzelt gegen die helle Sonne an. Es ist Clay. Und eine sehr hübsche braunhaarige Frau in einem Designerkostüm. Ich bleibe stehen und beobachte, wie er sie anstrahlt und sich dann vorbeugt, um sie zu küssen. Mitten auf den Mund. Und ihr dabei sanft über den Rücken streicht.
Ich hatte zwar damit gerechnet, Clay Tucker noch öfter zu begegnen – aber nicht so.
»Was ist los, Samantha?«, fragt Nan und zupft mich am Ärmel.
Was los ist? Es war zwar kein Zungenkuss, aber definitiv auch kein unschuldiger Kuss unter Geschwistern.
»Da vorne ist der neue Freund meiner Mutter.« Jetzt drückt Clay die Schulter der Frau und zwinkert ihr lächelnd zu.
»Deine Mutter hat einen Freund? Du machst Witze, oder? Seit wann?«
Die Frau lacht und streichelt Clay über den Arm.
Nan wirft mir einen besorgten Blick zu.
»Ich weiß nicht, wann sie sich kennengelernt haben«, sage ich mechanisch. »Scheint was Ernstes zu sein. Jedenfalls für meine Mom.«
Jetzt öffnet die Brünette, die dem Aussehen nach mindestens zehn Jahre jünger ist als meine Mutter, ihre Aktentasche und reicht Clay eine Mappe. Er neigt den Kopf zur Seite und sieht sie mit einem Blick an, der sagt: »Du bist die Beste.«
»Weißt du, ob er verheiratet ist?«, flüstert Nan. Plötzlich fällt mir auf, dass wir wie angewurzelt auf dem Gehweg stehen und die beiden ziemlich offensichtlich anstarren. Genau in dem Moment schaut Clay zu uns rüber und entdeckt uns. Er winkt mir zu und scheint sich keiner Schuld bewusst zu sein. Wenn du es wagst, meine Mutter zu hintergehen …, denke ich und lasse den Gedanken dann wieder fallen, weil – mal im Ernst –, was könnte ich schon tun?
»Wahrscheinlich ist sie nur eine gute Freundin«, sagt Nan, klingt aber wenig überzeugt. »Komm, lass uns Eis essen gehen.«
Ich werfe Clay einen letzten Blick zu, der ihm hoffentlich deutlich zu verstehen gibt, dass seine empfindlichsten Körperteile in Gefahr sind, falls er meine Mutter betrügen sollte, und folge Nan. Was bleibt mir auch anderes übrig?
Ich versuche, jeden Gedanken an Clay zu verdrängen, zumindest so lange, bis ich zu Hause bin und mir in Ruhe den Kopf darüber zerbrechen kann. Nan bringt das Thema zum Glück nicht mehr zur Sprache.
Als das Doane’s in Sicht kommt, bin ich erleichtert. Der winzige alte Laden liegt gleich neben dem Pier, der die Flussmündung vom Meer trennt, und war früher ein Süßwarengeschäft mit riesigen Bonbongläsern auf der Theke, aus denen man sich für einen Penny Lakritzstangen und anderen Süßkram fischen konnte. Jetzt lockt er mit »Vargas« – einer mottenzerfressenen Hühnerattrappe mit echten Federn, die zwangsneurotisch nach uralten, klebrigen Zucker-Maiskörnern pickt, wenn man fünfundzwanzig Cent in den Automaten wirft. Aus irgendeinem Grund hat sich Vargas zu einer echten Touristenattraktion des Doane’s entwickelt – neben dem legendären Softeis, den Salzwasser-Toffees und dem tollen Blick auf den Leuchtturm.
Nan kramt in ihrem Portemonnaie. »Hey, was …? Ich hatte zwanzig Dollar da drin. Jetzt habe ich keinen Cent mehr! Nichts! Ich bringe meinen Bruder um!«
»Kein Problem.« Ich ziehe ein paar Scheine aus der Tasche.
»Du kriegst es so bald wie möglich wieder«, verspricht Nan und nimmt das Geld.
»Ist schon okay, Nanny. Also, was für ein Eis wolltest du noch mal?«
»Später. Erst muss ich das von Daniel zu Ende erzählen. Gestern Abend hat er mich nach New Haven ins Kino eingeladen. Ich fand den Abend wunderschön, aber er hat mir heute nur eine einzige SMS geschrieben und da stand bloß ›hdl‹ drin, er hat sich noch nicht mal die Mühe gemacht, es auszuschreiben. Das ist doch komisch, oder?«
Daniel ist für mich schon immer ein Buch mit sieben Siegeln gewesen. Er gehört zu diesen Intelligenzbestien, neben denen man sich geistig immer extrem minderbemittelt vorkommt.
»Vielleicht hatte er keine Zeit?«
»Hallo? Ich bin immerhin seine Freundin. Müsste man für die nicht alle Zeit der Welt haben?« Nan füllt ein Plastiktütchen mit Colafläschchen, Gummibären und Schoko-Malzkugeln. Zuckertherapie.
Ich weiß erst nicht so recht, was ich sagen soll. Schließlich platze ich mit einem Gedanken heraus, den ich schon eine ganze Weile habe, sehe sie dabei jedoch nicht an. »Ich habe irgendwie den Eindruck, dass du nicht wirklich entspannt bist mit Daniel. Dass er dich verunsichert. Findest du das normal?«
Nan starrt das Huhn an, das gerade einen epileptischen Anfall zu haben
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