Mein Sommer nebenan (German Edition)
Tim ins Zimmer kommt. Seine Haare stehen in alle Richtungen ab und er hat eine ziemlich mitgenommen aussehende, karierte Flanellpyjamahose und ein Lacrosse-Trikot der Ellery Preparatory School an. Er würdigt uns keines Blickes, sondern geht schnurstracks zu der Keramik-Miniaturausgabe der Arche Noah, die auf dem Fenstersims steht, und fängt an, die Figuren in obszönen Positionen anzuordnen.
Er ist gerade damit fertig geworden, Noah und ein Kamel in einer extrem anstößigen und anatomisch komplizierten Stellung zu arrangieren, als Nan auflegt.
»Ich wollte dich eigentlich schon längst angerufen haben«, sagt sie zu mir. »Wann fängt dein Job im Club an? Ich bin ab nächster Woche im Souvenirshop.«
»Ich fange auch nächste Woche an.«
Tim gähnt herzhaft, kratzt sich die Brust und ordnet zwei Affen und ein Nashorn zu einem flotten Dreier an. Selbst auf die Entfernung kann ich ihn riechen – er stinkt nach Gras und Bier.
»Du könntest wenigstens so höflich sein und Hallo zu Samantha sagen, T.«
»Oh, heeeyyy, Sammy. Haben wir nicht gerade erst noch miteinander gesprochen? Ach, stimmt ja. Haben wir tatsächlich. Sorry. Keine Ahnung, wo verdammt noch mal meine guten Manieren abgeblieben sind. Scheinen irgendwie nicht mehr dieselben zu sein, seit sie im Trockner eingegangen sind. Auch was?« Er zieht ein Fläschchen Augentropfen aus der Gesäßtasche seiner Pyjamahose und hält es mir hin.
Ich winke ab. »Nein danke. Ich versuche gerade, von dem Zeug runterzukommen.« Tims rot geäderte graue Augen haben die Tropfen dringend nötig. Ich finde es schrecklich, mit anzusehen, wie jemand, der Verstand hat, seine Zeit damit verschwendet, sich zuzudröhnen und zu verblöden. Er wirft sich stöhnend rücklings auf die Couch und legt eine Hand über die Augen. Es fällt mir schwer, mich daran zu erinnern, wie er war, bevor er ein Anwärter für die Betty-Ford-Klinik wurde.
Als wir klein waren, haben wir im Sommer viele Wochenenden gemeinsam mit unseren Eltern am Stony Bay Beach verbracht. Damals habe ich mich mit Tim sogar besser verstanden als mit Nan. Nan und Tracy lasen, aalten sich in der Sonne und tauchten höchstens mal den großen Zeh ins Wasser, wohingegen Tim nie Angst hatte, weit hinaus zu waten und sich mit mir in die höchsten Wellen zu werfen. Er war es auch, der die Brandungsrückströmung in der Bucht entdeckte, die einen in die Tiefe zog und ins offene Meer hinaustrieb.
»Und, was macht das Liebesleben, Babe?« Er wackelt anzüglich mit den Augenbrauen in meine Richtung. »Als ich Charley das letzte Mal gesehen hab, ist er ziemlich angefressen gewesen, weil du ihn nicht mehr ranlassen wolltest.«
»Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, T – keiner hört dir zu«, sagt Nan.
»Nein, im Ernst. Ich find’s gut, dass du mit Charley Schluss gemacht hast. Er ist ein komplettes Arschloch. Ich hab ihm auch den Laufpass gegeben, weil er seltsamerweise der Meinung ist, ich wäre ein Arschloch.«
»Wie kommt er denn bloß auf diese absurde Idee«, wirft Nan ein. »Und jetzt sei so lieb und leg dich ins Bett. Mommy kommt gleich nach Hause, und sie kauft es dir garantiert nicht schon wieder ab, dass du wegen deiner Allergien zu viel Benadryl genommen hast. Sie weiß, dass du keine Allergien hast.«
»Und ob ich welche hab«, ruft Tim mit gespielter Entrüstung. Er zieht einen Joint aus der Brusttasche seines Shirts und wedelt triumphierend damit durch die Luft. »Ich bin allergisch gegen Gras.« Dann bricht er in hysterisches Lachen aus. Nan und ich sehen uns an. Tim ist meistens stoned oder betrunken. Aber so wie er sich jetzt aufführt, völlig überdreht und hippelig, scheint er sich etwas Härteres eingeworfen zu haben.
»Lass uns verschwinden«, sage ich. »Wir könnten zu Fuß in die Stadt gehen, was hältst du davon?«
Nan nickt. »Wie wär’s mit einem Abstecher ins Doane’s? Ich könnte einen Chocolate-Malt-Eisbecher vertragen.« Sie nimmt ihre Tasche von einem mit Blümchenstoff bezogenen Ohrensessel und beugt sich anschließend zu Tim hinunter, der immer noch leise vor sich hin kichert und schüttelt ihn. »Geh nach oben. Jetzt. Bevor du noch hier einpennst.«
»Keine Sorge, Schwesterherz. Das wird nicht passieren. Ich ruhe bloß meine Augen aus«, murmelt Tim.
Nan rüttelt noch mal an seiner Schulter. Als sie sich umdrehen und gehen will, greift er nach dem Henkel ihrer Tasche, sodass sie ruckartig zum Stehen kommt.
»Nanni, mein Engel, bringst du mir was mit?«, fragt er
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