Mein Sommer nebenan (German Edition)
scheint. Es pickt nicht mehr nach den süßen Maiskörnern, sondern wiegt sich seltsam manisch vor und zurück. »Woher soll ich das wissen?«, sagt sie schließlich. »Daniel ist mein erster richtiger Freund. Du hattest schon Charley und Michael. Und in der Achten warst du mit Taylor Oliveira zusammen.«
»Taylor zählt nicht. Wir haben uns nur ein einziges Mal geküsst.«
»Er hat aber überall rumerzählt, dass du bis zum Äußersten mit ihm gegangen bist!«, sagt Nan, als wäre das ein Beweis für irgendetwas.
»Danke, dass du mich daran erinnerst. Ein wahrer Prinz. Ja, es stimmt. Er war die Liebe meines Lebens. Welchen Film habt ihr euch denn angeschaut?«
Vargas ruckende Bewegungen werden immer langsamer, bis das Huhn schließlich erzitternd zum Stehen kommt. »Welchen Film?«, fragt Nan stirnrunzelnd. »Ach so, ja … Das Haus nebenan . So einen dreistündigen französischen Dokumentarfilm in Schwarz-Weiß aus den Sechzigerjahren über Nazis, der gar nicht schlecht war. Danach sind wir noch in ein Café, wo lauter Studenten aus Yale abhingen, und Daniel ist mir gegenüber plötzlich total arrogant geworden und hat angefangen, Wörter wie ›tautologisch‹ und ›Subtext‹ zu benutzen.«
Ich lache. Obwohl Daniel Nans Herz mit seiner Klugheit erobert hat, ist seine manchmal etwas überhebliche Art immer wieder Thema.
»Irgendwann blieb mir nichts anderes übrig, als ihn zum Wagen zu zerren und zu küssen, damit er endlich die Klappe hält.«
Als sie das sagt, muss ich unwillkürlich an Jase Garretts Mund denken. Er hat einen schönen Mund mit einer vollen Oberlippe, die aber nicht zu voll ist, sondern genau richtig. Nan beugt sich gerade über den Behälter mit den Jelly Beans. Sie hat sich die feinen rotblonden Haare hinters Ohr geklemmt und knabbert am Nagel ihres Zeigefingers. Auf dem Nasenrücken hat sie einen leichten Sonnenbrand und die Haut schält sich ein bisschen und ihre Sommersprossen sind dunkler als letzte Woche. Ich setze dazu an, ihr zu erzählen, dass ich da so einen Jungen kennengelernt habe , bringe aber keinen Ton heraus. Nicht einmal Nan weiß, dass es schon seit Jahren eines meiner Lieblingshobbys ist, die Garretts zu beobachten. Es ist nicht unbedingt so, dass ich es vor ihr geheim gehalten habe. Ich habe ihr bloß nie davon erzählt. Außerdem … was sollte ich ihr schon groß dazu sagen? Das mit Jase kann sich noch in alle Richtungen entwickeln. Oder in gar keine. Ich konzentriere mich wieder auf die Süßigkeiten.
»Was meinst du?«, fragt Nan. »Sollen wir Tim seine Jelly Beans mitbringen? Du hast das Geld und damit die Entscheidungsmacht.«
»Klar, von mir aus. Aber wenn, dann nur die gruseligen grünen.«
Nan dreht knisternd ihr Cellophantütchen zu. »Samantha? Was sollen wir unternehmen? Wegen Tim, meine ich.«
Ich schöpfe eine Kelle grüne Apfel-Jelly-Beans in mein Tütchen und muss plötzlich an etwas denken, das passiert ist, als wir sieben waren. Ich war beim Schwimmen von einer Feuerqualle erwischt worden. Tim weinte, weil unsere Mütter ihm nicht erlaubten, mir aufs Bein zu pinkeln – er hatte nämlich gehört, dass das das perfekte Gegenmittel für ihr Gift war. »Aber, Ma, ich habe die Macht, sie zu retten!«, hatte er geschluchzt. Das war jahrelang ein Insiderwitz zwischen uns gewesen: Vergiss niemals, dass ich die Macht habe, dich zu retten! Und jetzt scheint er sich noch nicht einmal selbst retten zu können.
»Also, außer zu hoffen, dass diese Jelly Beans über magische Kräfte verfügen …«, sage ich, »habe ich keine Ahnung.«
Achtes Kapitel
A m nächsten Nachmittag schlüpfe ich auf der Veranda aus den Schuhen und will gerade ins Haus gehen, um mich umzuziehen, als ich Mrs Garrett rufen höre.
»Samantha? Könntest du vielleicht kurz mal rüberkommen?«
Sie steht am Fuß unserer Einfahrt und hat Patsy auf dem Arm. Neben ihr steht George, nur mit einer Shorts bekleidet. Ein paar Meter weiter versteckt Harry sich mit der Spritzdüse eines Gartenschlauchs in der Hand hinter einem parkenden Wagen und spielt ganz offensichtlich Scharfschütze.
Als ich näher komme, bemerke ich, dass Mrs Garrett Patsy gerade wieder stillt. Sie sieht mich mit einem offenherzigen Lächeln an. »Hallo … Ich habe mich gefragt … weil Jase mir erzählt hat, wie wunderbar du mit George umgegangen bist … also, da dachte ich, ich frage mal nach, ob …« Sie hält plötzlich inne und betrachtet mich mit großen Augen.
Ich blicke an mir herunter. Oh. Die Uniform.
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