Mein Traummann die Zicke und ich
etwas.«
Zum Glück ist diese Bemerkung Anlass für Misty, mich endlich loszulassen, damit ich aufspringen und durch die Eingangshalle
sprinten kann, um ans Telefon zu gehen. Meine Handtasche ist in der Stiefelkammer. Ich habe mir angewöhnt, sie dort zu lassen, weil ich sie so immer in der Nähe habe und nicht erst zurück in Sollies und mein Zimmer muss. Ich habe mich nämlich schon viermal verlaufen, seit ich hier bin. Ich spiele bereits mit dem Gedanken, mir ein Beispiel an der griechischen Mythologie zu nehmen und einen Faden auszulegen, der mich immer wieder an meinen Ausgangspunkt zurückbringt.
Auf dem Display des Handys leuchtet »MUM« auf.
»Hallo, mein Schatz, hier ist deine Mutter«, sagt sie, nachdem ich atemlos aufs Knöpfchen gedrückt habe, als wäre es möglich, dass ich sie nach all den Jahren nicht an der Stimme erkennen könnte.
»Hallo, Mum. Wie ist der Urlaub?«
»Furchtbar warm. Und wie ist es in Schottland?«
»Auch warm, wenn man bedenkt, dass Herbst ist, oder genauer gesagt wechselhaft. In einem Moment ist es total warm, im nächsten regnet es.«
»Genau wie hier. Vielleicht hätten wir unser Geld sparen und nach Schottland fahren sollen?«
»Ich wünschte, das hättet ihr«, sage ich ein bisschen zu emotional.
»Wirklich, mein Schatz?« Ich erkenne am Klang ihrer Stimme, dass ihr Mutterinstinkt ihr bereits verraten hat, wie es um die Gefühlslage ihrer Tochter steht. »Ist alles okay bei dir?«
»Oh ja, natürlich, es wäre nur so schön gewesen, euch auch hier zu haben, als Ausgleich, weißt du. Ich bin allein, und sie sind Hunderte.« Mein Lachen klingt nervös.
»Ihr seid zu zweit, Violet. Du und Sollie. Ihr werdet bald zur selben Familie gehören, genau wie der ganze Rest des Klans. Also bist du nicht in der Minderheit, sondern du bist eine von ihnen.«
So ist meine Mutter, immer vernünftig und besonnen. Sie sieht die Dinge immer so klar, und ich bin schwer versucht, ihr alles zu erzählen und sie um Rat zu fragen, aber wenn ich ehrlich bin, weiß ich schon, was sie mir sagen würde, nämlich genau dasselbe, was sie mir damals in der Schule schon gesagt hat. Halt ihr auch die rechte Wange hin, Violet. Sei die Nettere. Habe solange Vertrauen, bis man dir Grund gibt, keins zu haben. Ihr Lieblingslied ist Monty Pythons » Always look on the bright side of life «.
»Abgesehen davon, dass du dich ein bisschen überrumpelt fühlst, gefällt es dir aber?«
»Es ist interessant.«
»Interessant – mehr nicht?«
»Gut«, füge ich hinzu und fühle mich den Tränen nahe, obwohl das »gut« ja der Wahrheit entspricht, aber so viele andere Gefühle haben dieses »gut« bombardiert, bis es ganz schwach geworden ist und sich eher anhört wie ein »Nicht so gut«, was blöd ist, denn ich habe ja nicht nur eine »gute«, sondern sogar eine »tolle« Zeit hier, und das Einzige, was alles hätte kaputtmachen können, ist aus dem Weg geräumt.
»Vergiss ›gut‹, ich meine ›toll‹, ich habe eine tolle Zeit hier!«
»Oh, das ist schön zu hören. Ich freue mich, dass es dir gut geht … Ist Sollies Familie genauso unglaublich wie er?«
»Unglaublich trifft es genau«, sage ich wahrheitsgemäß.
»Wie schön … Was ist denn, Henry?« Ich höre, wie sie sich vom Hörer abwendet, weil sich mein Vater in die Unterhaltung einmischt. »Dad sendet dir viele Grüße.«
»Oh, viele Grüße zurück.«
»Richte ich aus. Warte noch eine Sekunde, dein Vater will noch etwas sagen.« Ich höre, wie sie die Hand auf die Muschel
legt und wie mein Vater irgendetwas im Hintergrund sagt. Und dann lacht sie.
»Er möchte wissen, ob er deiner Meinung nach zu alt und zu englisch für Dreadlocks ist?«
In dem Moment pruste auch ich laut los, weil mein Vater fünfundsechzig ist und so kahl wie ein Kinderpopo.
Wir reden nicht lange, meine kostenbewusste Mutter hat sicher genau ausgerechnet, wie groß das Loch ist, das ein Anruf aus Übersee in ihre streng geführte Haushaltskasse reißt, aber es ist unglaublich – da ist das Wort wieder -, wie sehr auch ein kurzes Gespräch mit ihr mich aufbaut. Sie ist so vernünftig und optimistisch in Bezug auf alles, dass ihr Vernünftigsein und ihr Optimismus bei jedem Kontakt mit ihr ein bisschen abfärben. Als wir uns verabschieden, bin ich überzeugt davon, dass Pippa höchstwahrscheinlich aufrichtig ist und ich nur wieder die Paranoia mit mir durchgehen lasse.
Aber dann, als ich mein Handy zurück in die Tasche lege, fällt mir auf, dass etwas nicht
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