Mein Traummann die Zicke und ich
aber niemanden von der Familie an den mit Kerzen beleuchteten Tischen entdecken.
»Wo sind sie denn alle?«, frage ich ihn.
Er dreht sich um und zwinkert mir zu. »Wahrscheinlich waren sie es leid, auf uns zu warten, und sind schon wieder nach Hause gefahren.«
»Aber wir sind nur zwanzig Minuten zu spät.«
»Ich weiß, das war ein Scherz. Du wartest hier, und ich gehe mal rein und suche nach ihnen. Du kennst meine Sippe ja schon ein bisschen, sie stehen vermutlich alle an der Bar und schreien nach Whisky und Champagner.«
Während Sollie nach drinnen geht, lehne ich mich an das Terrassengeländer und schließe die Augen, um den köstlichen Duft nach Pinien und kalter Seeluft einzuatmen, und dann mache ich die Augen wieder auf und kann sie gar nicht mehr abwenden von dem Loch und den Wäldern und den Bergen in der Ferne.
Es ist der schönste Ort, den ich je gesehen habe.
So romantisch. So überwältigend. Und auch so friedlich. Kein Geräusch ist zu hören außer dem Wind auf dem See und dem gelegentlichen Ruf eines Wasservogels und – ganz, ganz leise – den gedämpften menschlichen Stimmen und der schwachen
Musik hinter mir, die aber im Vergleich zu der großartigen Stille der Natur nur ein schwaches Flüstern sind.
Und dann höre ich wieder Schritte, als sich jemand langsam von hinten an mich heranschleicht, und am Geruch seines Aftershaves und seiner Haut und der Tatsache, dass er ganz nahe an mich herankommt, erkenne ich, dass es Sollie ist. Er schlingt seine Arme um mich, schiebt mein Haar zur Seite, küsst mich in den Nacken … und nimmt den Seidenschal, den er mir vorher gekauft hat, um mir die Augen zu verbinden.
»Was um Himmels willen tust du da?«, frage ich mit einem Flüstern.
»Pssst, vertraust du mir etwa nicht?«
»Natürlich vertraue ich dir.«
»Dann sei still, und mach einfach mit.«
»Mit wobei, Sol?«
»Welchen Teil des Satzes ›Sei still‹ hast du nicht verstanden, Vi?«
Er prüft noch einmal, ob der Schal fest sitzt, nimmt mich an der Hand und führt mich weg.
»Vorsichtig, hier sind Stufen.«
»Wo gehen wir hin?«
»Das wirst du gleich sehen. Aber jetzt psssst …«
Da ich meines Sehvermögens beraubt bin, schärfen sich alle meine anderen Sinne.
Ich könnte schwören, dass die Haare auf meinen Armen zu Berge stehen, als er mich von der Terrasse wegführt und, wie ich vermute, in den Garten, weil ich Rasen unter den Füßen fühle. Nach wenigen Minuten werden die Geräusche gedämpfter, und der Wind lässt nach; wir müssen jetzt auf Waldboden laufen, weil ab und zu Zweige unter unseren Schuhen knacken. Sollie hält die ganze Zeit meinen Arm. Schließlich haben wir wieder Gras unter den Füßen, und ich kann das sanfte Geräusch
des Wassers hören. Wir müssen also wieder in der Nähe des Sees sein.
Und dann erklingt Musik.
»Gleich sind wir da«, sagt Sollie, und einen Augenblick später gehen wir wieder auf Stein und ich werde eine kleine Treppe hinaufgeführt, hinein in ein Gebäude.
Ich möchte fragen: »Wo da?«, aber ich habe mittlerweile gelernt zu schweigen.
Sol lässt meinen Arm los und nimmt mir den Schal ab.
Ich blinzle einen Moment, bis sich meine Augen an die neugewonnene Freiheit gewöhnt haben.
Wir befinden uns in einem achteckigen Steinhaus, das mitten auf einer vom Wald eingeschlossenen Lichtung am Rand des Wassers steht.
Der Raum ist einfach, aber schön, hat eine gewölbte Decke, Fliesenboden und bleiverglaste Fenster. Beleuchtet wird er von Gaslampen, die ihn in ein warmes goldenes Licht tauchen.
Ein runder Steintisch in der Mitte und zwei solide Holzstühle bilden das Mobiliar. Im Hintergrund läuft Musik; ich meine, die samtene Stimme von Sarah Vaughan zu erkennen. Der Tisch ist für zwei gedeckt: Champagner und Meeresfrüchte, und außer uns beiden ist niemand da.
»Überraschung«, sagt Sollie leise.
Er sieht mich erwartungsvoll an.
»Was ist los? Wo sind denn alle?«
»Hier.«
»Aber …«
»Es sind nur wir zwei, Vi.«
Die Jazzmusik verstummt, und nach einer kleinen Pause erklingt etwas anderes.
Unser Lied.
Crowded House .
»Everywhere you go, you always take the weather with you. Everywhere you go. You always take the weather …«
Und dann kniet Sol vor mir nieder. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen, denn das erste Mal hat er es nicht auf die traditionelle Weise gemacht; es war auch schön, unvergesslich, aber nicht so wie das hier. Und obwohl ich nicht gedacht hätte, dass es mir gefallen würde, weil ich
Weitere Kostenlose Bücher