Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis
nicht.
Das eigene Schicksal wird vor einem geheim gehalten, sogar im Kleinen. Psychischer Druck, klar. Wohin man vorgeladen wird, weshalb man abgeführt wird – nie sagt einem jemand etwas. Es heißt einfach nur: »mit Sachen«, »ohne Sachen«, »mit Papieren«, »ohne Papiere«, »nach Jahreszeit« (womit die Oberbekleidung gemeint ist, die man anziehen soll). Mehr noch, wenn ein Ermittler kommt und Unterlagen mitbringt, oder wenn Unterlagen im Gefängnis ankommen und man seinen Anwalt trifft, dann werden einem diese Unterlagen mit Sicherheit erst später ausgehändigt. Der Zweck ist klar: Man soll wenigstens noch ein paar Tage lang keine Gelegenheit haben, sich zu beratschlagen.
Die demütigenden Durchsuchungen, die in Tschita bis zu sechsmal pro Tag stattfanden, werden einem allmählich gleichgültig. Natürlich ist das schlecht. Aber die Messlatte für menschenwürdige Lebensbedingungen liegt inzwischen auf einer anderen Höhe. Leider. Dennoch, wenn man nicht abrutschen will, muss man innerlich um jede alltägliche Kleinigkeit kämpfen. Regelmäßige sportliche Übung, Sauberkeit, tägliche Arbeit, Höflichkeit im Umgang mit allen – scheinbar alles einfach und selbstverständlich, aber nicht dann, wenn jahraus, jahrein versucht wird, einen mit Resignation, Vergessen und zermürbenden Gefängnistraditionen zu brechen.
Die Knastgesellschaft
Das Leben in der Haft begünstigt lange Gespräche über die verschiedensten Themen. Wichtig ist dabei das Bildungsniveau der Zellengenossen. Beratungen »zum Verfahren« sind im Gefängnis ziemlich üblich, weil es nicht allzu häufig vorkommt, dass jemand einen eigenen Anwalt hat, und die Pflichtverteidiger selten mit dem Herzen bei der Sache sind. Ein guter Anwalt ist überhaupt ein großes Glück.
Diese »professionellen« Beratungen sind nicht sehr kompliziert, so komisch das auch ist. Die meisten Richter kennen gerade einmal das Strafgesetzbuch, die Strafprozessordnung und ein paar Entscheidungen des Plenums des Obersten Gerichtshofs: »Über das Gerichtsurteil« und »Über die Festsetzung des Strafmaßes«. Und selbst das kennen sie nicht besonders gut. Ihre möglichen Fehler vorauszusagen, ist daher weder schwierig noch riskant. Ebenso wie die Mängel im Urteil ausfindig zu machen, die es einem erlauben, eine Berufungsklage stichhaltig zu begründen.
Ich kann mit voller Verantwortung sagen: Über die wirtschaftsrechtlichen Aspekte meines Falls habe ich mich gründlich informiert, ich habe sowohl die einschlägigen Monografien als auch die laufenden wissenschaftlichen Diskussionen zur Kenntnis genommen. Aus praktischer Sicht eine sinnlose Beschäftigung. Dieses Niveau ist weder für die Staatsanwälte noch für die Bezirksgerichte von Interesse. Auch bei der Revisionsinstanz gibt es nur wenige Spezialisten, und selbst die werden niemals ohne Anweisung »von oben« einen Fall so eingehend betrachten. Das heißt, alles fährt auf eingefahrenen Gleisen, selbst wenn die Wissenschaft längst festgestellt hat, dass die Gleise in den Abgrund führen. Mit »Abgrund« meine ich zum Beispiel einen systemischen Widerspruch zwischen Zivilrechts- und Strafrechtsanwendung.
Generell findet sich, ohne dass man dafür allzusehr in die Tiefe gehen müsste, in zwei von drei Urteilen etwas, wo man ansetzen kann, um eine Wiederaufnahme zu erwirken. Tatsächlich rollt die Berufungsinstanz aber nur einen von zehn Fällen neu auf, bei der Revisionsinstanz kommt das noch seltener vor.
Man begreift sehr bald, was Wahrheit ist und was Lüge. Ich denke, auch für die meisten professionellen Richter ist das kein Geheimnis. Nur haben sie kein Interesse daran, das zu sehen.
Viele Akten lesen sich offen gestanden einfach widerlich, während andere einen geradezu surrealistischen Eindruck vermitteln, das Gefühl, dass die Leute in irgendeiner anderen Wirklichkeit leben. So etwa der Fall eines Russen, der in einem russischen Dorf zwei Jahre lang von einer tschetschenischen Familie als Sklave gehalten wurde. Unglaublich? Und doch ist das eine Tatsache. Der Mensch, der dafür verurteilt wurde, hat mir das im Ganzen bestätigt.
Natürlich trifft man auf sehr interessante Menschen, mit denen man über vieles sprechen kann, nicht zuletzt über Erdöl und Politik. Trotz manchmal deutlicher Meinungsverschiedenheiten. Unter den Berühmtheiten wäre da zum Beispiel Wladimir Kwatschkow zu nennen. 15 Daneben gibt es hier allerdings auch viele weit weniger bekannte, aber sehr ernsthafte und gebildete
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