Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis
gegenüber den verbliebenen Reizen. Wer lange einsitzt, sieht gern Zeichentrickfilme, reagiert stärker auf Ereignisse in der Außenwelt und nimmt seine Mitmenschen wesentlich differenzierter wahr. Leute, die nach langen Haftstrafen freigekommen sind, erzählen, dass sie in den ersten Monaten Menschen lesen konnten wie ein offenes Buch. Später vergeht diese »Hypersensibilität«.
Auch die ethischen Normen verändert die Haft zweifellos. Besonders bei jungen, geistig noch nicht gefestigten Leuten. Während 95 Prozent der Menschen in Freiheit Lügen im Allgemeinen eher missbilligen und Brutalität nicht für normal halten, ist in der Haft alles anders. Nur die »eigenen Leute«, also die Mitgefangenen, darf man hier nicht belügen und bestehlen. Brutalität ist die Norm. Diese Regeln werden einem nicht nur und vielleicht auch nicht in erster Linie von der Gemeinschaft der Kriminellen aufgezwungen. Nach denselben Regeln leben diejenigen, die »mit der Administration kooperieren«, aber auch die Administration selbst. Die »Zone« ist ein großes Dorf. Hier weiß jeder alles über alle. Es verheimlicht auch keiner groß etwas. Die »Operativen« versuchen, alle zu spalten und ihnen Fallen zu stellen, sie klauen ohne Ausnahme alles, sie prügeln in der Arrestzelle (und übrigens nicht nur dort), erkaufen sich Dienstleistungen und so weiter. Womöglich läuft nur der Drogenhandel einigermaßen geheim ab. Obwohl man natürlich auch über die Drogen bestens Bescheid weiß. Ich selbst habe zum Beispiel allein in der »Zone« Haschischriegel, Joints und Haschischextrakt gesehen, und Marihuana rauchten dort während der Saison fast alle. Dieser seltsame, süßliche Rauch war sehr charakteristisch. Im Grunde war es komisch: Als ich in der »Zone« ankam, konnte ich anfangs nicht begreifen, wieso die Leute sich wie Betrunkene benahmen, aber keine »Fahne« hatten. Später wurde mir alles klar …
Mensch oder wandelnder Computer
Mich persönlich hat die Haft zweifellos auch verändert, obwohl ich bereits erwachsen und gefestigt war, als ich verhaftet wurde. Am meisten gewandelt hat sich die Bedeutung, die das Verhältnis zu mir nahestehenden Menschen, zu meiner Familie für mich hat. Auch mein Weltbild hat sich verändert. Ich denke, meine Artikel lassen das erkennen. Besser als alle anderen wird aber meine Frau diese Veränderungen beurteilen können, wenn wir uns endlich wiedersehen.
Ob es in der Haft zu Wutausbrüchen oder Verzweiflungsanfällen kommt? Oder kann man sich kontrollieren? Beides ja. Bei mir hat es sowohl Verzweiflung gegeben als auch Wut. Mir hilft es, wenn ich Emotionen dieser Art auf Papier nachgeben kann. Letzten Endes musste ich mich auch im normalen Leben immer »sehr kontrollieren«. Meine Mitmenschen halten mich für gefühllos. Für eine Art wandelnden Computer. Vielleicht stimmt das irgendwo auch. Meine emotionale Reizschwelle ist wirklich ungewöhnlich hoch. Um mich in Wut zu bringen, muss schon etwas Außergewöhnliches passieren. Trotzdem setzt einem die offensichtliche Ungerechtigkeit des Geschehens selbst in Kleinigkeiten am Anfang doch sehr zu, auch wenn man alles durchschaut.
Die erste Gerichtsverhandlung im Basmanny-Gericht war ein Schock für mich. Man wird einfach nicht gehört. Hey, Moment mal, und was ist mit der Begründung? Vielleicht haben Sie sich das alles nur ausgedacht? Warum gilt Ihr Wort mehr als meines? Warum soll ich wegen Ihrer Paranoia im Gefängnis sitzen? Niemanden interessieren deine Fragen. Genauso wenig wie der nichtssagende Wisch mit den Gesetzen. Glauben Sie, das macht einen nicht fertig? Und ob! Irgendwann fängt man aber an zu begreifen, dass man bei Außerirdischen in Gefangenschaft geraten ist. Das sind keine Feinde, keine Faschisten, sondern einfach fremde Wesen, die uns nur äußerlich ähnlich sehen. Mit denen es nichts zu reden gibt. Dann beruhigt man sich. Mit der Zeit nahm ich die Gefängnisse, Gerichte und Ermittler nur noch als Naturphänomene wahr, die man zwar studieren kann, auf die man aber nicht emotional reagieren darf.
Emotional am schwierigsten ist die Ungewissheit. Nicht darüber, was mit einem selber wird, sondern was zu Hause passiert, mit der Familie, mit den Freunden. Manchmal dauert es Tage, ja Wochen, bis man wieder Klarheit hat. Bis man nachfragen, etwas in Erfahrung bringen kann. Telefone gibt es in den Haftanstalten natürlich genug, und für viele ist das die Rettung, aber längst nicht alle haben Zugang dazu. Ich zum Beispiel
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