Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis
Menschen.
Was uns verändert: die Haft oder das Alter
Was meine eigenen Empfindungen angeht, hat die Haft dazu geführt, dass ich mich mehr in mich vergraben habe, aber auch, dass ich die äußere Wirklichkeit tiefer analysiere. Das Lebenstempo verlangsamt sich. Ein sehr interessantes Paradoxon ist: Jeder einzelne Tag zieht sich lange hin, die Wochen, Monate und Jahre aber verfliegen schnell. In Freiheit war eine Stunde viel für mich, hier ist es nur ein Augenblick, sobald ich tiefer in meine Gedanken eintauche. Dafür gibt es eine absolute Qualität der Konzentration. Die Zellengenossen stören mich nicht; ein Paar Ohrstöpsel – und ich bin im Weltall.
Was die übrigen Veränderungen betrifft – ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Da ich erst mit über 40 ins Gefängnis kam, war ich als Mensch offenbar schon gefestigt. Alltagsprobleme sind für mich nichts Neues: In den ersten 30 Jahren meines Lebens habe ich öfter selber Wäsche gewaschen und geputzt, und auch warmes Wasser gab es längst nicht immer. Nicht einmal Essen. Natürlich ist man im Gefängnis nicht zu Hause, aber die Angehörigen kümmern sich, sie schicken einem, was erlaubt ist. Das ist schon in Ordnung. Das einzige praktische Problem, das wirklich stört, ist wohl, dass es keinen Computer, keinen Zugang zu Informationen gibt. Nicht nur keine operativen Informationen, sondern auch keine allgemeinen. Allzu viele Bücher kann man schließlich nicht mit in die Zelle nehmen. Da ist die Hilfe der Anwälte von unschätzbarem Wert.
Eine Fähigkeit, die ich immer gehabt habe und die mir in der Haft sehr nützt, ist, dass ich mich völlig auf eine Aufgabe konzentrieren und dabei alle unnötigen Gedanken abschalten kann. So eine Art »gelenkte Depression«. Ich kann einen ganzen Arbeitstag, acht Stunden lang, diszipliniert über eine oder mehrere »Produktionsaufgaben« nachdenken. Ich mache kleinere Pausen, stelle mir zur Erholung etwas Schönes vor. Wie ich zum Beispiel langsam, genüsslich ein Zimmer mit Möbeln und Technik »einrichte«. Nach so einem »Arbeitstag« erhole ich mich bei einem einfachen Buch oder irgendeinem Quatsch im Fernsehen, oder ich stelle mir meine Familie, meine Freunde vor. Ich gebe mich Erinnerungen und Träumereien hin. Noch einmal: Das ist eine alte Angewohnheit, eine alte Fähigkeit, die sich in der Haft als nützlich erwiesen hat.
Was meine Beziehungen zu anderen Menschen angeht – meine Frau meint, ich sei weicher, »menschlicher« geworden. Mir fällt das nicht auf. Ich kann boshaft und streitsüchtig sein, aber nicht besonders nachtragend, wie auch früher schon. Das Schwierigste für mich war und bleibt, meine Gefühle zu zeigen. Ich bin in der Vorstellung erzogen worden, dass ein Mann nicht zu emotional sein sollte. Witze machen – ja, bisweilen sogar überaus bissig. Auch über sich selbst, besonders aber über die Machthabenden. Aber nie die wahre Einstellung, die wahren Gefühle zeigen. Mir fiel das nicht schwer, zumal ich außerhalb meiner Familie und meines Freundeskreises kaum je starke Gefühle habe. In der Beziehung zu meinen Kindern bin ich emotional. Gegenüber meinen Angehörigen und Freunden vielleicht etwas sentimentaler. Aber wie soll man hier die Folgen der Haft von den Veränderungen unterscheiden, die mit dem Alter kommen? Starke Gefühle lösen weder die Staatsanwälte noch Putin und Setschin bei mir aus. Sie sind wie ein Herbstregen – eine unangenehme Naturerscheinung, mehr aber auch nicht.
9 Benannt nach dem ehemaligen Premierminister des zaristischen Russlands, Pjotr Stolypin. Diese Waggons waren eigentlich für den Transport von bäuerlichem Inventar und Vieh bestimmt, nach dem Tode Stolypins ging man jedoch dazu über, darin Häftlinge in die Lager zu bringen. Die Wagen verwandelten sich somit in Gefängnisse auf Rädern. Diese Waggons sind mit Hilfe von Trennwänden in Zellen unterteilt, in denen jeweils eine Seite vom Fußboden bis unter die Decke vergittert ist; in jeder Zelle gibt es drei Etagen mit Liegeplätzen, vor der Zelle gehen ständig Wachmannschaften auf und ab. (Anm. Natalija Geworkjan)
10 Staatliche Aufsichts- und Kontrollbehörde für die Einhaltung des Arbeitsrechts und der Arbeitsschutzbestimmungen. (Anm. Natalija Geworkjan)
11 Spezieller Raum für Häftlinge, die gegen die Lagerordnung verstoßen haben. Für Gefangene im Karzer gelten besonders strenge Haftbedingungen. (Anm. Natalija Geworkjan)
12 Nach dem Gericht des Moskauer Stadtteils Basmanny, das für
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