Mein wildes Herz
Tüll, der mit Silberfäden durchwebt war, musste sie unwillkürlich an die einfachen Gewänder denken, die sie auf Draugr getragen hatte. Heute konnte man in dem tiefen Dekolleté den Ansatz ihrer Brüste sehen. Das zog gelegentlich die Blicke gut gekleideter Herren auf sie und auch ein paar herumirrende Blicke tratschender Damen, die sich zweifellos fragten, was an den Geschichten über Krista stimmte.
Krista wappnete sich. Sie war wieder in London, war wieder in ein eng sitzendes Korsett und viele Unterröcke gekleidet, und sie hatte eine Aufgabe zu erledigen.
Während sie unter einer beeindruckenden Glaskuppel durch die majestätische Eingangshalle schritten, beugte sich Corrie zu ihr. „Bist du sicher, dass das eine gute Idee war, Krista?“
„Es war eine schreckliche Idee. Für den Tratsch ist heute Feiertag, und als Herausgeberin von Heart to Heart bin ich sowieso bei etlichen Gästen höchst unbeliebt.“
„Nun, wir können nicht einfach wieder gehen, das würde alles nur noch schlimmer machen.“ Corrie sah sich um und bemerkte, genauso wie Krista auch, dass etliche Leute zu ihnen herüberstarrten.
„Ich habe nicht vor, wieder zu gehen“, erwiderte Krista entschieden, auch wenn ihr die Knie zitterten.
„Was soll ich sagen, wenn man mich wegen deiner Rückkehr ausfragt?“
„Vater und Großvater erzählen den Leuten, dass ich bei meiner Tante auf dem Land war. Tante Abby war erkrankt, weißt du, aber jetzt ist sie, dank meiner selbstlosen Bemühungen, wieder auf den Beinen.“
„Das klingt glaubwürdig.“
„Vielleicht. Allerdings werden sie es wohl eher deshalb glauben, weil keiner sich den Zorn des Earl of Hampton zuziehen möchte – oder den Tante Abbys.“
Corrie unterdrückte ein Lachen. „Sie ist wirklich eine wunderbare Person, deine Tante.“
„So wie deine“, sagte Krista und warf einen Blick auf die stolze silberhaarige Dame. Lady Maybrook, nicht im Geringsten eingeschüchtert durch Leute, die sie als „arbeitende Klasse“ bezeichnete, steuerte zielstrebig auf die Punschbowle zu. Doch statt nach Punsch griffen Krista und Corrie lieber nach den Champagnergläsern.
„Um meine Nerven zu beruhigen“, erklärte Krista.
„In der Tat“, stimmte Corrie ihr zu und nahm einen großen Schluck.
Der Ballsaal war noch verschwenderischer geschmückt als das übrige Haus, mit unzähligen Kerzen in goldenen Kandelabern und großen Zweigen frischer Kamelien und Gardenien. Ein achtköpfiges Orchester, in strahlend blauen Satin gekleidet, spielte auf einer Bühne am Ende des Ballsaals.
Die Fragen über ihren Aufenthalt auf dem Lande beantwortete Krista, indem sie sich an die von ihrem Vater und Großvater erfundene Geschichte hielt.
„Es kam ganz unerwartet“, sagte sie zu der dicken Mrs. Clivesdale, Mutter eines reichen Eisenbahnunternehmers. „Normalerweise ist meine Tante sehr robust.“
„Ist sie hier?“, fragte die Frau und hob ihr Lorgnon, um über ihre kurze, breite Nase hinweg den Blick schweifen zu lassen.
„Leider nicht. Tante Abby muss sich noch erholen, müssen Sie wissen.“
„Natürlich, ich verstehe.“
Die Dame verstand überhaupt nichts, was Krista gerade recht war.
Der Abend verlief nicht ganz so unangenehm, wie Krista ihn sich vorgestellt hatte, denn auch einige Freunde ihres Großvaters waren anwesend.
Sie erkannte Lord und Lady Paisley wie auch den Earl und die Countess of Elgin. Alles Menschen, die sich ihrem Großvater gegenüber äußerst loyal verhielten. Matthew Carltons Vater war da, der Earl of Lisemore. Er stand neben seinem Sohn Phillip Baron Argyll. Dann entdeckte Krista Matthew.
Mit seinen hellbraunen Haaren und den vornehmen Zügen war er so attraktiv wie eh und je, und sie dachte, dass ihr Leben so viel leichter, so viel weniger schmerzhaft verlaufen wäre, wenn sie sich in ihn hätte verlieben können. In diesem Moment sah er sie und hob den Kopf. Mit langen Schritten kam er auf sie zu.
„Krista, du bist wieder zu Hause. Dein Großvater sagte es mir. Eine Zeit lang glaubte ich, dich nie wiederzusehen.“
„Ach ja? Ich war nur auf dem Land. Tante Abby wurde krank, und ich fuhr hin, um sie zu pflegen.“
„Ja … das hat der Earl gesagt.“
„Aber du glaubst ihm nicht?“
„Es ist nicht wichtig. Es ist nur wichtig, dass du wieder da bist.“
Da war etwas in seinem Gesicht, ein vertrautes Interesse, das sie schon lange tot geglaubt hatte. Er ergriff ihre behandschuhte Hand und führte sie an die Lippen. „Ich hoffe, dass wir
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