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Mein wildes Herz

Mein wildes Herz

Titel: Mein wildes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kat
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sich bis zum Horizont erstreckten. Die hohen Masten knarrten. Leif stand hinter dem großen Steuerrad aus Teakholz.
    Er war jetzt mehr als drei Tage von England entfernt und fast auf halbem Weg nach Draugr. Und an jedem dieser Tage hatte er England wie einen großen Magneten, der ihn mit aller Kraft zurückzog, in seinem Rücken gespürt. Noch nie hatte er so etwas empfunden. Es war eine so große Macht, dass er fast schon glaubte, die Götter selbst riefen ihn zurück.
    Immer wieder rief er sich ins Gedächtnis, dass er eine Pflicht zu erfüllen hatte. Sein Clan brauchte ihn, und er hatte seinem Vater ein Versprechen gegeben. Niemals hatten die Götter Krista für ihn ausersehen.
    Seit drei Tagen redete er sich das ein. Seit drei Tagen versuchte er sich zu überzeugen. Und erst vor ein paar Augenblicken, nach einer weiteren schlaflosen Nacht, hatte er sich an das Kästchen erinnert.
    Das geschnitzte Holzkästchen, das Onkel Sigurd ihm an dem Morgen gegeben hatte, als er von Draugr losgesegelt war.
    „ Wenn du in England bist“, hatte sein Onkel gesagt, „ und immer noch an deiner Rückkehr nach Draugr zweifelst, dann möchte ich, dass du das hier öffnest …“
    „Ich habe eine Pflicht zu erfüllen, Onkel.“
    „Nimm das Kästchen“, hatte Sigurd gesagt. „ Öffne es nur, wenn deine Zweifel bleiben.“
    Leif hatte es genommen und in seiner Kajüte unter die Koje gestellt. Er hatte nie daran gedacht, es zu öffnen. Aber mit jedem Tag waren seine Zweifel gewachsen, und jetzt trieb es ihn zu sehen, was darin war. Er übergab Captain Twig das Steuer und ging zu der Leiter, die zu seinem Quartier im Heck des Schiffes führte. Er fand das Kästchen schnell und zog es hervor. Dann setzte er sich in seine Koje, öffnete den verrosteten Schnappriegel und hob den Deckel hoch.
    Drinnen lag, in ein fein gesponnenes Wolltuch gewickelt, ein aus einem Walzahn geschnitztes Amulett, das an einem langen Lederriemen befestigt war. Leif erkannte den Gegenstand sofort. Sein Vater und der Vater seines Vaters hatten ihn getragen. In der Mitte des Amuletts war ein kleiner silberner Hammer, der Donnerhammer von Thor, dem Gott, der die Menschen vor dem Bösen beschützte.
    Neben dem Amulett lag ein zusammengerolltes Pergament aus Schafshaut.
    Leifs Hand zitterte, als er danach griff und es entrollte. Er erkannte sofort die Handschrift seines Onkels.
    Wenn du dies liest, dann hast du das Kästchen geöffnet, und es ist klar, dass deine Zukunft nicht länger auf Draugr liegt. Vor seinem Tod befreite dich dein Vater von deinem Schwur, aber nur, falls dein Schicksal woanders liegen sollte. Bis zum Ende glaubte er an deine Rückkehr, und er bat mich, dir sein Amulett zu übergeben. Es soll dich auf deiner Lebensreise beschützen. Fürchte nicht um dein Volk. Olav wird an deiner statt weise regieren. Er gehört hierher, wie du nie hierher gehört hast. Folge deinem Herzen, Neffe, und dem Pfad, den die Götter dir bestimmt haben.
    Sigurd
    Leif verspürte ein seltsames Herzklopfen, als er den Brief jetzt beiseite legte und nach dem Amulett griff. Solange er sich erinnern konnte, hatte sein Vater Thors Hammer um den Hals getragen, zum Schutz gegen jegliche Gefahr, die ihm auf seinem Lebensweg begegnen mochte.
    Ragnaar hatte ihm, dem ältesten Sohn, den Halsschmuck übergeben. Obwohl Leif sich seinen Wünschen widersetzte, hatte sein Vater ihn geliebt. Und vielleicht verstand er am Ende auch, warum Leif hatte gehen müssen.
    Leif hielt den Lederriemen hoch und streifte ihn über den Kopf, sodass das Amulett nun auf seiner Brust ruhte. Ihm war, als könnte er die Gegenwart seines Vaters hier in der Kajüte spüren.
    „Danke, Vater“, sagte er feierlich und schloss die Hand um das kunstvoll geschnitzte Amulett. Dann drehte er sich um und ging hinaus. Ein nie gekanntes Gefühl von Freiheit und nie gekannter Freude erfüllten ihn. Die Götter hatten doch die ganze Zeit recht gehabt. Sein Herz und sein Schicksal lagen in England. Endlich war er frei, sie einzufordern.
    Während er über Deck schritt, rief er: „Machen Sie alles bereit, Captain Twig. Unsere Pläne haben sich geändert. Wir kehren nach England zurück!“
    Leif lächelte bei dem Gedanken, dass er mit der Rückkehr in ein Land, das ihm einst so fremd gewesen war – und mit der Rückkehr zu Krista –, endlich nach Hause kommen würde.
    Es war Samstag, Kristas Hochzeitstag. Sie stand früh auf, um sich darauf vorzubereiten. Ihre Schrankkoffer waren nach Hampton House, dem

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