Mein wildes Herz
der Nahrung sorgte.
Leif schluckte einen Bissen Heilbutt hinunter. „Auf Draugr essen wir meistens Schafe, Rinder und Ziegen. Aber es gibt auch Wild auf der Insel. Wir essen Fisch und diese Seetiere, die ihr Engländer Robben nennt. Alle paar Jahre kommt ein Wesen an unsere Küste, das Sie Walross nennen. Wir verarbeiten sein Fleisch und seine Stoßzähne.“
Erfreut stellte Krista fest, dass seine Manieren besser geworden waren. Er wartete, bis ein Diener ihm eine Portion Fleisch auf den Teller legte. Auch wenn er sein Essen nicht länger hinunterschlang, benutzte er jedoch immer noch nur sein Messer und seinen Löffel.
Krista sah, dass Tante Abby ihn fasziniert beobachtete. Falls sie seinen Mangel an Tischmanieren bemerkte, so schien es ihr nichts auszumachen.
Abby lächelte in seine Richtung. „Sie haben aber einen guten Appetit, Mr. Draugr.“
Leif nickte. Sein Blick streifte kurz Krista. „Ich war schon immer ein Mann von großem Appetit.“
Tante Abbys Blick folgte dem seinen, und ihre Augen weiteten sich. Eine leichte Röte stieg in ihre Wangen. „Ja, nun … das kann ich mir vorstellen.“
Der Professor räusperte sich. „Mr. Draugr meint, dass ein Mann seiner Größe tüchtig essen muss, um bei Kräften zu bleiben.“
In der Tat, dachte Krista. Selbst in seinem perfekt maßgeschneiderten schwarzen Gehrock und den grauen Hosen sah er stark wie ein Ochse aus. Und er machte – das musste sie sich widerwillig eingestehen – eine schneidige Figur.
Entschlossen, die Konversation wieder auf ein unverfängliches Thema zu lenken, nahm sie einen Schluck Wein und stellte ihr Glas dann zurück auf den Tisch. „Sie sagten, auf Ihrer Insel gäbe es keinen Wald. Ohne Boote dürfte der Fischfang allerdings ein Problem sein.“
„Wir haben Boote – kleine Boote aus Schilf. Doch sie sind nicht groß genug, um lange Strecken zu segeln. In früheren Zeiten gab es Wälder auf der Insel, und die Menschen bauten Schiffe. Aber mit den Jahren brauchten sie den Wald auf, und die Schiffe wurden alt und verrotteten.“
„Sie haben erzählt, ein fremdes Schiff wäre an den Küsten zerschellt. Konnten Sie so das Schiff bauen, das Sie hierher brachte?“
„Das Schiff zerbrach, doch die meisten Balken waren noch brauchbar. Einige der Männer überlebten und waren begierig, wieder in ihre Heimat zu kommen.“ Er ignorierte den Wein und trank stattdessen von dem Bier, das der Professor für ihn bereitgestellt hatte. „Wir besaßen Zeichnungen von den Schiffen, auf denen unsere Krieger in früheren Zeiten gesegelt waren. Die bauten wir dann. Es gab welche unter uns, die hatten seit Jahren zu den Göttern um eine Gelegenheit gefleht, die Welt jenseits unserer Insel kennenzulernen. Jetzt bekamen wir endlich unsere Chance.“
„Haben Sie Familie, Mr. Draugr?“, fragte Tante Abby.
„Ja. Mein Vater lebt dort, meine Schwester Runa und meine Brüder Olav, Thorolf und Eirik. Mein Vater wollte nicht, dass ich gehe. Ich bin der Älteste, der Sohn, dessen Pflicht es ist, seinen Platz einzunehmen, wenn er in die Andere Welt reist. Deswegen muss ich auch zurückkehren.“
Sein Gesicht drückte eiserne Entschlossenheit aus. Man konnte sehen, dass Leif kein Mann war, der seine Verpflichtungen auf die leichte Schulter nahm.
Sie unterhielten sich noch ein wenig über das Leben auf der Insel, über die Monate, die er auf Heartland verbracht und wie viel er dort gelernt hatte.
„Sie sind ein erstaunlicher junger Mann, Mr. Draugr“, sagte Tante Abby. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schwer es sein muss, sich in so kurzer Zeit einer völlig neuen Kultur anzupassen.“
„An-zu-passen?“
„In sich aufnehmen“, sagte Krista, und er nickte.
Ihr Vater lächelte. „Leif hat während unseres Aufenthaltes außerordentlich hart gearbeitet. Ihr glaubt gar nicht, wie viele Bücher er gelesen hat. Aber wie auch immer, jetzt ist es jedenfalls an der Zeit, dass er lernt, wie man sich in der feinen Gesellschaft benimmt. Ich hoffe, ihr beiden werdet ihm dabei helfen.“
Jetzt verstand Krista endlich. Das war es also, was Leif gemeint hatte.
Tante Abby bekam leuchtende Augen. „Ach du liebe Güte, das klingt nach einer Menge Spaß. Ich bin überzeugt, Mr. Draugr wird ein sehr begabter Schüler sein.“
„Ich wüsste nicht, warum ich dabei eine große Hilfe sein sollte“, widersprach Krista und suchte nach einer Möglichkeit, sich zu drücken. „Was die Etikette der feinen Gesellschaft angeht, kann man mich wohl kaum eine
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