Mein Wille geschehe
nicht gestellt, sondern sich jeweils auf die
Anforderungen des Falls konzentriert. Ihr Vater
hatte ihr immer erklärt, dass es Aufgabe eines
Verteidigers ist, jemanden zu verteidigen, und
dass es dabei eher hinderlich sein kann, emotio-
nal Position zu beziehen. Bei einem Fall, in dem
die Todesstrafe drohte, mochte diese Haltung
nicht ausreichen. Corey Latham war in der Tat
anders als ihre bisherigen Mandanten. Er war
jung, gesprächsbereit und verletzlich, und es
konnte leicht geschehen, dass er einem System
zum Opfer fiel, das gewisse Tücken hatte. Doch
das sollte nicht ihre Sorge sein.
»Sagen wir mal: Wenn ich einer der Geschwore-
nen wäre, könnte ich mich vielleicht überzeugen
lassen, im Zweifelsfall zu seinen Gunsten zu ent-
scheiden«, sagte Dana. »Ich finde das recht selt-
sam«, sinnierte Cotter und spielte mit einem gol-
denen Füller. »Ich hab mir die Akte angesehen.
Sie haben genug für einen Haftbefehl und die An-
klageerhebung, aber es reicht bei weitem nicht
für einen Schuldspruch. Dennoch tun die bei der
Staatsanwaltschaft so, als sei die Sache geritzt.«
»Sie stehen enorm unter Druck.«
»Ja, aber sie müssen einen Schuldspruch durch-
kriegen. Wenn sie den Jungen laufen lassen, ist
das eine Schlappe, von der sie sich nie wieder
erholen. Und falls auch nur irgendwelche Zweifel
auftauchen an der Schuld des Burschen, wieso
sind sie dann so übereifrig?«
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»Ich kann nicht hellsehen«, sagte Dana mit ei-
nem Achselzucken. »Vielleicht verlassen sie sich
auf die Stimmung und glauben, dass die Ge-
schworenen sich davon beeinflussen lassen. Oder
sie dachten, es gibt einen Pflichtverteidiger und sie haben leichtes Spiel. Sie haben bestimmt
nicht damit gerechnet, dass Latham mit einer
renommierten Kanzlei anrückt. «
»Oder vielleicht enthält man uns was vor?«
Dana schüttelte den Kopf. »Ich hab das über-
prüft«, sagte sie. »Brian Ayres ist der Staatsan-
walt, der mit diesem Fall betraut wurde. Ich ken-
ne ihn. Ich habe schon mit ihm gearbeitet. Er
spielt keine Spielchen, das hat er gar nicht nötig.
Er ist erfahren, und er ist einer der Besten. Nein, ich denke, dass er sich seiner Sache sicher ist,
aus welchen Gründen auch immer.«
»Und Sie haben begründete Zweifel?«
»Allerdings«, antwortete sie. »Meiner Ansicht
nach beruht der gesamte Fall bislang auf Indi-
zienbeweisen, das heißt, es kommt ganz auf die
Auslegung an. Nun ist es natürlich meine Aufgabe
als Verteidigerin, diesen Blickwinkel zu haben.
Die Anklage wird sich gewiss bemühen, ein
schlüssiges Bild zu zeichnen. Aber ein Spazier-
gang kann es für sie nicht werden, das sehe ich
nicht.«
»Und damit kommen wir zur Sache, nicht?«, sag-
te Cotter. »Sie haben sich mit dem Knaben un-
terhalten. Sie scheinen ihn sympathisch zu finden 126
oder sind zumindest in gewisser Weise positiv
überrascht von ihm. Und Sie wissen, wie groß
dieser Fall ist, wie sehr es auf eine gute Verteidigung ankommt. Wir möchten, dass Sie das über-
nehmen. Wir denken, dass Sie all das mitbringen,
was dafür vonnöten ist. Und wer weiß, vielleicht
sagt er ja tatsächlich die Wahrheit. Also, was
meinen Sie?«
Dana hatte ihre Antwort parat, die sie sich in den frühen Morgenstunden zurechtgelegt hatte, als
Sam noch schlief. Sie würde den Köder nicht
schlucken. Sie würde sich nicht dazu überreden
lassen, Corey Latham zu verteidigen. Ob sie ihn
sympathisch fand oder nicht, spielte dabei keine
Rolle, ebenso wenig wie die Frage nach seiner
Schuld oder Unschuld. Cotter mochte ihr die Rü-
ckendeckung der Kanzlei anbieten, doch ihr war
bewusst, dass ihr persönlicher Ruf als Anwältin
hier auf dem Spiel stand, nicht der Ruf der Kanz-
lei. Man konnte sie im Handumdrehen absägen,
wenn etwas nicht nach Plan lief. Nein, es ging
hier in erster Linie um ihre Karriere und erst in zweiter Linie um das Leben des Mandanten.
Sie sah Paul Cotter direkt an, obwohl ihr Magen
sich dabei zusammenkrampfte. Sie war artig ins
Gefängnis gegangen, hatte mit Latham geredet
und ihn durch die Anklageerhebung geschleust.
Doch noch bevor sie den Freedom Park durch-
querte, war sie bereits fest entschlossen gewe-
sen, diesen Fall nicht anzunehmen, was auch
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immer sie in der Zelle erwarten mochte. Und dar-
an hatte auch ihr Mitgefühl für den jungen Mann,
das sie sich selbst eingestehen musste, nichts
ändern können. Im Gegenteil, ihre Begegnung
mit Corey Latham hatte sie nur
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