Mein Wille geschehe
nicht bewei-
sen kann, dass er die Tat begangen hat«, sagte
sie, »sollte man ihn freisprechen.« Judith be-
trachtete ihre Freundin prüfend. Sie kannten sich seit dreißig Jahren. »Kein Wunder, dass du nicht
mehr zum Schlafen kommst«, sagte sie leise.
Auf der anderen Seite des Restaurants, außer
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Hörweite, saß ein Mann mittleren Alters mit ei-
nem Bauchansatz, rötlichen Haaren und Bart-
stoppeln. Er trug Khakis und ein T-Shirt mit der
Aufschrift »Seattle Mariners«. Die beiden Frauen
bemerkten ihn nicht. Tom Kirby war seit einem
Monat in Seattle, und soeben war ihm der Grund
seines Aufenthalts hier bewusst geworden.
Bei seiner Ankunft hatte er sich zunächst eine
kleine Wohnung in einem Apartmenthotel am Fuß
des Queen Anne Hill genommen und den Kühl-
schrank mit Orangensaft und Gefriermenüs voll
gepackt. Probe bezahlte ihm einen anständigen Tagessatz, mit dem er sich drei warme Mahlzeiten im Restaurant und ein gutes Hotel hätte leis-
ten können, doch er wollte nur so viel davon aus-
geben wie nötig. Sollten seine Kollegen ihr Geld
doch verprassen. Er hatte, während er arbeitslos
war, gelernt, sparsam zu sein.
Als er sich eingerichtet hatte, kaufte er sich das T-Shirt und ein paar andere Kleidungsstücke, die
ihn mehr wie einen Einheimischen aussehen lie-
ßen. Er wollte keinesfalls für einen Fremden, ei-
nen Touristen oder gar für jemanden von der
Presse gehalten werden.
Dann machte er sich mit der Gegend vertraut, in
der sein Hotel gelegen war, und erkundete nach
und nach die ganze Stadt. Er ging auch zu einem
Baseball-Spiel und feuerte die einheimische
Mannschaft an, leinte die Busrouten auswendig
und fuhr mit einer Fähre über den Puget Sound
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und wieder zurück. Erst als er sich in der neuen
Umgebung einigermaßen heimisch fühlte, begann
er, sich dem Thema zuzuwenden, das ihn hierher
geführt hatte.
Der Prozess würde erst in zwei Monaten stattfin-
den, ihm blieb noch genug Zeit für seine Recher-
chen. »Woher wissen Sie, wonach Sie suchen
müssen?«, fragte der Herausgeber, dem das Vor-
haben seines Reporters noch etwas schleierhaft
war.
»Ich werde mich auf meinen Instinkt verlassen«,
antwortete Kirby.
In den Archiven der Seattle Times und des Post-Intelligencer brachte er Tage damit zu, die Berichte über den Anschlag zu lesen, und bestellte sich ständig neue Ausgaben der Zeitschriften, die sich auf dem Tisch vor ihm türmten. Er stieß auf Dut-zende von Storys, die nur darauf warteten, ge-
schrieben zu werden: über Opfer, Überlebende,
Angehörige von Opfern, über die Folgen des An-
schlags für die gesamte Stadt. Doch mit diesem
Material befasste er sich nicht näher.
»Vielleicht könnte ich Ihnen besser helfen, wenn
Sie mir sagen würden, wonach Sie suchen«,
schlug ein höflicher Angestellter nach einer Wo-
che vor.
»Das weiß ich leider selbst nicht«, gestand er,
»bis ich es gefunden habe.«
Er suchte weiter. Er sprach mit den Menschen,
denen er auf der Straße begegnete, den Obdach-
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losen, für die Hill House so wichtig gewesen war.
»Das waren echt gute Menschen da oben«, sagte
ihm ein Mann. »Sie haben uns verstanden und
sich um uns gekümmert, was sonst keiner ge-
macht hat. Jetzt sind die Kirchen eingesprungen.
Die verstehen uns nicht, und kümmern tun sie
sich auch nicht, aber sie geben uns was zu essen.
Die Leute vom Hill House haben keinen Wirbel
darum gemacht, aber die Kirchen hängen es an
die große Glocke.« Da wäre eine gute Geschichte
drin, dachte er, auf die keiner von den großspurigen Journalisten verfallen würde, die sich derzeit in der Stadt herumtrieben. Aber er hielt Ausschau nach etwas anderem.
Er begann, sich mit dem Angeklagten zu beschäf-
tigen. Fragte sich, wie ein anständiger junger
Mann so herunterkommen konnte. Daraus konnte
man eine Story machen, die des Pulitzer-Preises
würdig gewesen wäre. Kirby versuchte, einen In-
terviewtermin mit Latham zu bekommen, musste
jedoch erfahren, dass er von seiner Anwältin vollkommen abgeschirmt wurde. So verbrachte er
stattdessen einige Tage in Annapolis und in Cedar Falls, was aber nicht viel Neues brachte.
Er sprach mit Leuten, die am Rande mit dem Fall
zu tun hatten: mit Nachbarn, Freunden, Bekann-
ten, etwaigen Zeugen. Er trieb sich im Polizeiprä-
sidium und im Gerichtsgebäude herum, sprach
hier und da mit Angestellten. Doch er wusste,
dass Corey Latham nicht Thema seiner Story sein
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würde.
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