Mein Wille geschehe
junger Mann«, antwor-
tete Rose indigniert. »Ich glaube, dass nur Gott
Leben nehmen darf.«
»Würden Sie also sagen, dass es falsch ist, einen Mord zu begehen, um einen Mord zu verhindern?« Die alte Frau blickte den Staatsanwalt
scharf an. »Mord ist immer falsch, junger Mann«,
erklärte sie. »Da es sich hier um einen Mordpro-
zess handelt, möchte ich Sie fragen: Was halten
Sie von der Todesstrafe?« Rose seufzte. »Ich
weiß es nicht recht«, antwortete sie. »Ich verste-he, dass die Regierung bestimmte Menschen da-
von abhalten muss, anderen Gewalt anzutun, und
ich glaube auch, dass jeder Mensch für seine Ta-
ten zur Verantwortung gezogen werden muss.
Aber andererseits steht in der Bibel ›Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr‹.«
»Heißt das, dass Sie außer Stande wären, den
Angeklagten in diesem Prozess zum Tode zu ver-
urteilen, auch wenn Sie keinerlei Zweifel daran
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hegten, dass er kaltblütig einhundertsiebenund-
sechzig unschuldige Menschen getötet hat?«
»Nein«, antwortete Rose nach einem kurzen
Schweigen. »Das heißt es nicht. Es heißt ledig-
lich, dass ich sehr genau darüber nachdenken
und beten müsste.«
»Haben Sie sich eine Meinung über den Ange-
klagten gebildet?«, fragte Dana.
»Naja, wenn man den Zeitungen und dem Fern-
sehen glauben sollte, müsste man den jungen
Mann wohl für schuldig halten«, gab Rose zur
Antwort. »Aber da möchte ich mir doch lieber
selbst ein Bild machen, wenn Sie nichts dagegen
haben.«
Dana musste sich ein Lächeln verkneifen. Rose
Gregory war eine ideale Geschworene für die Ver-
teidigung. »Nein, ich habe nichts dagegen«, er-
widerte sie. »Ganz und gar nicht.«
Der Geschworene Nummer 103 lehrte Geschichte
an der McKnight Middle School in Renton. Seine
Schüler waren in einem Alter, in dem man sie
nicht leicht motivieren konnte, weshalb Stuart
Dünn begeistert war, als er hörte, dass man ihn
als potenziellen Geschworenen für den Latham-
Prozess einbestellt hatte. Was konnte es Span-
nenderes geben als einen Erfahrungsbericht von
einem Prozess? »Würden Sie gerne als Geschwo-
rener in diesem Prozess antreten?«, fragte Dana.
»O ja«, antwortete der Lehrer ruhig. »In den ein-
undzwanzig Jahren, die ich im Schuldienst bin,
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hat es keinen aufregenderen Prozess gegeben.«
»Und wie denken Sie bislang darüber, nach al-
lem, was Sie gelesen und gehört haben?«
»Das habe ich auch meinen Schülern gesagt: Wir
wissen noch nicht genug, um Position zu bezie-
hen. Das wird erst möglich sein, wenn sämtliche
Beweise vorliegen.«
»Und Sie glauben, dass Sie bis dahin unvoreinge-
nommen bleiben können?«
»Aber sicher«, sagte Stuart. »So funktioniert un-
ser Rechtssystem; auch das sage ich meinen
Schülern immer wieder.«
»Sie sind verheiratet, nicht wahr, Sir?«, fragte
Brian. »Ja. Glücklich und seit neunzehn Jahren.«
»Haben Sie Kinder?«
»Na klar. Sechs an der Zahl.«
»Das sind ziemlich viele hungrige Münder.«
»Wir kommen zurecht«, erwiderte Stuart würde-
voll. »Ich weiß, Sie denken, dass Lehrer hier zu
Lande ziemlich schlecht bezahlt werden, was lei-
der auch stimmt. Aber meine Frau hat ihren Ab-
schluss in Psychologie gemacht, als unser jüngs-
tes Kind zur Schule kam, und sie hat jetzt eine
ganze Stelle.«
»Tut mir Leid«, sagte Brian hastig. »Ich wollte
damit nicht sagen, dass Sie – ich meine, heutzu-
tage müssen ja meist beide verdienen.«
»Das stimmt«, entgegnete der Lehrer.
Der Staatsanwalt zog alle Register. »Auf meine
ungeschickte Art«, sagte er leicht verlegen, »ha-
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be ich nur versucht, hier eine Art mögliches Sze-
nario zu entwerfen.«
»Nur zu.«
»Nun, ich wollte darauf hinaus, dass, sagen wir
mal, Ihre Frau mit einem siebten Kind schwanger
wird. Und dass sie aus physischen, finanziellen
oder psychischen Erwägungen das Gefühl hat, an
diesem Punkt in ihrem Leben kein weiteres Kind
mehr bekommen zu können, woraufhin sie eine
Abtreibung vornehmen lässt, ohne es Ihnen zu
sagen. Wie wäre Ihnen dabei zu Mute?«
»Ich glaube, ich wäre am Boden zerstört«, ant-
wortete Stuart. »Wütend und verwirrt und sicher
todtraurig. Sechs Kinder zu haben war nicht im-
mer leicht, das gebe ich gerne zu, aber meine
Frau und ich haben Abtreibung als Lösung für uns
immer abgelehnt.«
»Würden Sie es als angemessene Reaktion auf
die Entscheidung Ihrer Frau betrachten, das Ge-
bäude in die Luft zu
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