Mein wirst du sein
Sebastian.
»Ach wie schön, meine Kinderlein alle um mich versammelt.«
Sie drückte Sebastian neben mich auf eines der Kissen und gab ihm einen Becher Tee, der meinem Tongebilde zwar nicht einmal entfernt ähnelte, aber mindestens genauso hässlich war.
Sebastian drückte mich kurz. Er war fünf Jahre jünger als ich, überragte mich aber um einiges. Ich wusste nicht, ob wir uns in irgendeiner Form ähnelten. Er war schlaksig, hatte natürlich rotes Haar und jede Menge Sommersprossen. Ob er nun mein Bruder oder mein Halbbruder war, ich vermutete, dass das nicht einmal meine Mutter so genau wusste. Für mich war er trotzdem mein Bruder, und ich hatte ihn lieb. Auch wenn ich seinetwegen schon etliche schlaflose Nächte verbracht hatte, denn irgendwie schaffte er es immer wieder, sich selbst in Schwierigkeiten zu bringen. Aber er war ein begnadetes Computergenie und hatte meinem Rechner schon öfter wieder Leben eingehaucht, wenn ich schon längst den virtuellen Totengräber bestellt hatte.
»Wie geht es euch?« Meine Mutter strahlte uns an und trank einen Schluck Tee.
Ich sah, dass Sebastian den Mund öffnete, um zu einer Antwort anzusetzen. Ich bedauerte ihn schon jetzt.
»Bist du mit dem Mord schon weitergekommen?«
Er klappte den Mund wieder zu und sah mich an.
»Nein, bin ich nicht.«
»Was soll ich ihr dann sagen?«
»Wem?«
»Na Susanne. Der Toten.«
Ach, dem Geist. Hm, was sagte man einem Geist?
»Keine Ahnung. Sag ihr, dass sie in den Himmel verschwinden soll. Oder meinetwegen in die Hölle.«
»Aber Kind, warum bist du denn so gereizt?« Ein vorwurfsvoller Blick traf mich aus grün umrandeten Augen. »Das sind arme Seelen, die noch hier in unserer Welt gefangen sind. Unerledigte Dinge sorgen dafür, dass sie nicht wegkönnen. Ich stelle mir das schrecklich vor. An wen hätte sie sich denn wenden sollen?«
An den Papst vielleicht? War nicht der für solche Dinge zuständig?
»Sie hat mich ausgesucht. Vermutlich, weil sie von meiner Verbindung zu dir weiß. Es ist doch auch wirklich ein glücklicher Umstand, dass ausgerechnet die Mutter der Person, die in dem Fall ermittelt, an Séancen teilnimmt.«
Ich fragte mich, was daran glücklich sein sollte.
»Habe ich etwas verpasst?«, mischte sich Sebastian mit gerunzelter Stirn ein. Er rutschte auf seinem Kissen hin und her.
»Jule fängt einen Mörder. Und ich bin das Medium.«
Ich sah meinen Bruder an und unterdrückte den Impuls, mir mit dem Finger an die Stirn zu tippen. In seinem Gesicht standen nur Fragezeichen.
»Erkläre ich dir später. Wie geht es dir?« Mich interessierte die Antwort ehrlich.
»Es geht«, antwortete Sebastian gedehnt. »Ich bin auf der Suche nach Arbeit.«
Mal wieder. Ich seufzte.
»Was ist passiert?«
»Diesmal konnte ich nichts dafür, der Laden hat dichtgemacht.«
Sebastian hatte bei einem Italiener Pizza ausgefahren. Den Job hatte er noch nicht lang gehabt. Und nun war er ihn schon wieder los.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte ich, doch er schüttelte den Kopf.
»Lass mal, ich habe da was am Laufen.«
Ich nickte.
»Was ist jetzt mit dieser Susanne?«, fragte meine Mutter dazwischen.
»Sag ihr einfach, dass ich an der Sache dran bin. Und dass ich ihren Mörder finden werde. Es ist nur eine Frage der Zeit.«
Alles war immer nur eine Frage der Zeit. Zeit ist etwas sehr Dehnbares.
»Wäre es nicht einfacher, wenn du mit mir zu einer Séance gehen würdest?«
Ich stellte meinen Tonbecher auf ein Beistelltischchen und stand auf.
»Ich muss leider los.« Meine Mutter schien enttäuscht. »Ich muss noch ein bisschen ermitteln.«
Das verstand sie natürlich. Ich drückte Sebastian und raunte ihm ins Ohr, dass er mich anrufen solle, wenn er Hilfe brauchte. Er nickte.
Meine Mutter brachte mich zur Tür. Obwohl im Flur ein seltsamer Geruch aus Sechzigerjahren und gekochten Zwiebeln herrschte, atmete ich tief durch, um meinen Kopf von dem Duft der Räucherstäbchen zu befreien. Einer erneuten Umarmung konnte ich geschickt entgehen, und als ich auf der Straße stand, schwor ich mir, dass das für lange Zeit der letzte Besuch bei ihr gewesen sein sollte.
Wie schon oft fragte ich mich, warum wir kein normales Mutter-Tochter-Verhältnis haben konnten. Doch wieder kam ich zu keiner befriedigenden Antwort. Wir hatten uns nie sonderlich nahe gestanden, und oft hatte ich den Verdacht gehegt, dass ich ihr im Weg stand bei der Ausübung ihrer spirituellen Tätigkeiten. Warum hatte sie dann geheiratet und
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